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nachDRUCK # 6

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RUHRTRIENNALE 2016

Befremdlich

entfremdet


DIE FREMDEN


Bewertung:    



Sie sind einander fremd geworden – sein Geist und sein Gewissen. Leere prägt seine Gefühle und Gedankenwelt. Ohne weiter nachzudenken zieht er eine Schusswaffe, als ihm am Strand ein Araber entgegenkommt. Bis heute beschäftigt die Leser das fehlende Motiv und die fehlende Fähigkeit des Ich-Erzählers nachvollziehbare Gründe für den grausamen Mord formulieren zu können, den er gleichgültig, gedanken- und gefühllos ausübt. Der Romanklassiker Der Fremde (1942) von Albert Camus (dem Hauptwerk der Philosophie des Existenzialismus) wurde immer wieder experimentell fürs Theater adaptiert.

Der Niederländer Johan Simons (Leiter der RUHRTRIENNALE) bezieht sich aktuell mit seinem Musiktheaterstück Die Fremden weniger auf Camus' Roman als vielmehr auf Der Fall Meursault – Eine Gegendarstellung, dem französischsprachigen Debütroman des algerischen Autors Kamel Daoud. Dessen Werk ist von Der Fremde inspiriert und erschien 2016 in deutscher Übersetzung. Daoud erfindet für den bei Camus namenlos bleibenden „Araber“ eine Familie und verleiht auch dem Mordopfer einen Namen und ein Gesicht: Moussa. Siebzig Jahre nachdem Camus‘ Ich-Erzähler Meursault für seinen irrationalen und zufälligen Mord in Algerien zum Tode verurteilt wurde, erzählt Moussas jüngerer Bruder Haroun die Geschichte des Mordopfers und vermengt dabei die literarische Realität der Romanprotagonisten mit der faktischen Realität der Wirkungsgeschichte von Camus' Original. Der Fall Meursault – Eine Gegendarstellung wurde in Frankreich beim Prix Goncourt 2014 als bester Debütroman ausgezeichnet und wird nun in einer Fassung von Vasco Boenisch und Tobias Staab erstmals für die Bühne adaptiert.



In der Zeche Auguste Victoria in Marl auf dem Weg zur Vorführungsstätte | Foto (C) Ansgar Skoda


Auch wegen der eindrucksvollen Spielstätten an verlassenen Industriedenkmälern des Ruhrgebiets ist das seit 2002 jährlich stattfindende, renommierte Kulturfestival RUHRTRIENNALE ein Publikumsmagnet. In der großzügig weitläufigen Kohlenmischanlage Zeche Auguste Victoria in Marl beeindruckt das Bühnenbild mit einem hausgroßen Kohlenwäscherüttler im Zentrum, vor dem sich das fünfköpfige Ensemble in blauen Overalls und das fünfzehnköpfige Orchester hellwarm ausgeleuchtet mittig aufgebaut haben.

Das niederländische Asko/Schönberg-Ensemble spielt unter der Leitung von Reinbert de Leeuw irisierende Neue Musik voll schwelender Dissonanzen und schräger Rhythmen. Neben Kompositionen aus Die Stücke der Windrose des argetinisch-deutschen Komponisten Mauricio Kagel und aus dem Kammerkonzert des österreichisch-ungarischen Komponisten György Ligeti treten Soundscapes von Wouter Snoei. Im musikalischen Zentrum der Vorführung steht jedoch die Komposition Bouchara des Kanadiers Claude Vivier, für den die Sopranistin Katrin Baerts die Bühne betritt, während die Darsteller selbige verlassen. Die Niederländerin Baerts lässt ihren gedehnten, warm timbrierten Gesang in einer unverständlichen, imaginären Sprache minutenlang schweben. Währenddessen bewegt sich beinahe unbemerkt, langsam und lautlos der Kohlenwäscherüttler bis ans gegenüberliegende Ende der Halle, wodurch ein atemberaubender visuell-akustischer Eindruck entsteht.

Neben die außergewöhnlichen musikalischen Eindrücke treten während der Vorführung großformatig wiedergegebene Filmsequenzen des niederländischen Künstlers Aernout Mik. Eine Installation zeigt auf mehreren abwechselnd laufenden Monitoren zu Beginn dokumentarische Aufnahmen kurz vor und kurz nach dem algerischen Befreiungskrieg. Im zweiten Teil werden teilweise im Panoramaformat fiktionale Situationen in Flüchtlingslagern vorgeführt, bei denen weiße, westliche Lagerbewohner von fremdländisch aussehenden Beamten in einem in der aktuellen Vorführungsstätte aufgebauten Lager betreut werden. Der Zuschauer erkennt, dass die später vorgeführten Aufnahmen im Gegensatz zum dokumentarischen Material des ersten Teils fiktional sind.

Simons arbeitet mit starken Bildern, ohne jedoch eine tatsächliche Spannung zu entfachen. Die Darsteller nutzen die Fläche des 245 Meter langen Raumes, wenn sie erst weitentfernt als kleine Schemen auf der anderen Seite der Halle sichtbar werden und langsam größer werdend auf das Publikum zuschreiten. Wiederholt umkreisen sie laufend das Orchester oder durchqueren auch im Rückwärtsschritt die Kohlenmischhalle. Trotzdem sind ihre Stimmen stets deutlich vernehmbar, wenn sie oft kryptischen Gedankengängen über das Fremdsein nachgehen. Alle Darsteller ziehen im Verlauf des Stückes ihre Overalls aus, sprechen jeweils einzeln mal aus der Perspektive Meursaults und mal als Haroun. Selten stechen Figuren hervor, wenn sie eine Sonderrolle in der Personenkonstellation einnehmen. Der Belgier Benny Claessens agiert ähnlich affektiert und exaltiert-komisch wie noch in Johan Simons Inszenierung Accattone, die letztes Jahr auf der RUHRTRIENNALE zu sehen war. Er beklagt im Zwiegespräch mit dem estnischen Darsteller Risto Kübar die Gottlosigkeit der Welt und erstickende Verfehlungen der Weltreligionen. Sandra Hüller (zuletzt aufgefallen durch ihre eindringliche Darstellung im Film Toni Erdmann) agiert ausdrucksstark, wenn sie wiederholt tänzerisch verzückte Entrücktheit vorführt, ohne sich mit den Ungerechtigkeiten der Welt oder der Flüchtlingskrise konfrontieren zu wollen. Der französische Darsteller Pierre Bokma gibt am Boden kriechend ein starkes Bild der Hilflosigkeit als Imam, während die Niederländerin Elsie de Brauw als M‘ma ihm zaghaft die Hand auf die Schultern legt. Die Handlung bleibt recht diffus, obwohl die Bilder zu berühren vermögen.

In Erinnerung bleibt das ambitionierte Sujet des Stückes - Fremdheit wird von einem internationalem Ensemble und mit unterschiedlichen medialen Mitteln als Modus der Wahrnehmung vorgeführt und durch eine Vielzahl von Dimensionen und Blickwinkeln hinterfragt.

* *

In einer Zeit, in der kollektive Ängste durch Flüchtlingszuströme erstarken und rechtsnationale Parteien in ganz Europa an Zuspruch gewinnen, führen Die Fremden aufgeladene Wunsch- und Angstbilder vor. Die Uraufführung zeigt, dass sich der Mensch selbst aufgrund eigener abstruser Handlungsweisen fremd werden kann, während die sogenannten Fremden gar nicht so fremd sein müssen. In der Uraufführung nach Kamel Daouds Roman fasziniert insbesondere die Musik, auch die Leinwandaufnahmen sind interessant, die Personenführung auf der Bühne ist jedoch leider etwas konfus und zu wenig schlüssig.



Die Fremden in der Zeche Augste Victoria | Foto (C) JU/Ruhrtriennale 2016

Ansgar Skoda - 7. September 2016
ID 9529
DIE FREMDEN (Zeche Auguste Victoria, 03.09.2016)
Musikalische Leitung: Reinbert de Leeuw
Regie: Johan Simons
Bühne: Luc Goedertier
Kostüm: An De Mol
Licht: Dennis Diels
Video: Aernout Mik
Soundscapes: Wouter Snoei
Sounddesign: Will-Jan Pielage
Dramaturgie: Vasco Boenisch, Tobias Staab und Matthias Velle
Musikdramaturgie: Jan Vandenhouwe
Besetzung:
Haroun … Pierre Bokma, Benny Claessens, Elsie de Brauw, Sandra Hüller und Risto Kübar
M'ma … Elsie de Brauw
Meriem … Sandra Hüller
Offizier der Befreiungsarmee / Der Imam … Pierre Bokma
Sopran … Katrien Baerts
Asko|Schönberg
Uraufführung war am 2. September 2016
Weitere Termine: 8. - 10. 9. 2016
Eine Produktion der Ruhrtriennale und des NTGent


Weitere Infos siehe auch: https://www.ruhrtriennale.de


Post an Ansgar Skoda

http://www.ansgar-skoda.de

Uraufführungen

Carré bei der RUHRTRIENNALE 2016



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