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Repertoire

Liebe und Ökonomie



(C) Thalia Theater Hamburg

Bewertung:    



„Und die Liebe höret nimmer auf.“ heißt es ziemlich ironisch in Ödön von Horváths Oktoberfest-Schauspiel Kasimir und Karoline, in dem der „abgebaute“ Chauffeur Kasimir nach der Anstellung auch noch seine Braut Karoline verliert. Die spielt mit dem Gedanken nach Höherem, muss aber am Ende erkennen, dass sie für ihren rosigen Blick in die Zukunft zu tief unter sich hinunter müsst, um höher hinauf zu können. Auch die Elisabeth aus Glaube Liebe Hoffnung, die am Anfang noch ganz hoffnungsvoll in ihre Zukunft als Vertreterin für Miederwaren blickt, erfährt am eigenen Leib in Horváths kleinem Totentanz mit unvermeidlichem Trend nach unten den ökonomischen Zusammenhang von Gefühl und Karriere. Karoline und Elisabeth sind zwei der typischen Horváth’schen Engel „mit gebrochenen Flügeln“. In beiden Stücken (1932 geschrieben) sind die Menschen mehr oder weniger dazu gezwungen „egoistischer zu sein, als sie es eigentlich wären, da sie doch schließlich vegetieren müssen“ (Zuschneider Eugen Schürzinger in Kasimir und Karoline) oder wie es Elisabeth sagt: „Das seh ich schon ein, dass es ungerecht zugehen muss, weil halt die Menschen keine Menschen sind.“ Folgerichtig hat nun die Regisseurin Jette Steckel beide Dramen zu einem gemeinsamen Reigen und Requiem um Liebe und Ökonomie zusammengefügt.

Ob es nun heute ein bisschen gerechter zugeht, liegt ganz im Auge der BetrachterInnen, für die der Bühnenbildner Florian Lösche den Bühnenhimmel voll riesiger luftgefüllter Glücksbälle gehängt hat, die zuerst noch wie überdimensionale Weihnachtsbaumkugeln über den Protagonisten schweben und später dann, auf die Bühne heruntergefallen, wie ein undurchdringliches Labyrinth wirken. Wie Atlas trägt Kasimir (Mirco Kreibich) die Last des vermeintlichen Wiesn-Glücks, das für ihn zunehmend zur psychischen Belastung wird. Seine Karoline (Maja Schöne) bandelt nach einem Streit mit dem Zuschneider Eugen (Sebastian Rudolph) an, während sich Kasimir seiner Melancholie und dem Suff ergibt. Immer wieder schaltet Jette Steckel hier Szenen aus Glaube Liebe Hoffnung dazwischen, in denen Birte Schnöink als Elisabeth parallel ihren Weg vom Anatomischen Institut, in dem sie ihren Körper für die fehlenden 150 Mark für den Wandergewerbeschein verkaufen will, über die Beziehung zum Präparator und dem Schupo Alfons (Sebastian Zimmler) bis in den wässrigen Tod geht. Eine Frau will für die erhoffte Selbständigkeit nicht nur ihren zukünftigen Leichnam verkaufen, sie begibt sich auch schon zu Lebzeiten in eine männlich dominierte finanzielle und körperliche Abhängigkeit.

Der Präparator, der Elisabeth nicht ganz uneigennützig die 150 Mark vorstreckt, ist hier identisch mit dem Zuschneider Eugen. Er bringt erst Elisabeth wegen Betrugs ins Gefängnis und reicht alsbald seine Wiesenbekanntschaft Karoline an seinen Chef, den Oberpräparator/Kommerzienrat Rauch (Matthias Leja) für einen Karrieresprung weiter. So verschneidet Jette Steckel geschickt Stücke, Personen und Schicksale ganz wirkungsvoll miteinander, dass daraus tatsächlich ein unmittelbar zusammenhängender Reigen aus ökonomisch bestimmten Paarbeziehungen entsteht. Etwas zu sehr als Typen an den Rand gedrängt wird dabei das andere Paar Erna und der Merkl-Franz (Karin Neuhäuser und André Szymanski), das dafür aber mit ein paar schräg-komischen Slapstick-Einlagen glänzen darf. Ebenfalls etwas zu plakativ geraten die Figuren der Hermine Prantl-Speer (Patrycia Ziolkowska), Chefin von Elisabeth, und ihrem Mann, einem Amtsgerichtsrat (Oliver Mallison), der auch noch als volltrunkener Landgerichtsdirektor Speer durch die Oktoberfest-Szenen geistert.

Wie schon in ihrer kürzlich mit dem FAUST ausgezeichneten Inszenierung von Shakespeares Romeo und Julia hat Jette Steckel die Band 1000 Robota von Anton Spielmann mit der Live-Musik betraut. Die spielt vor allem schrägen Free-Jazz, aber auch ein paar deftige, elektronisch verstärkte Volkslied-Parodien. Es geht, wie bei einem Stationen-Drama üblich, recht flott von Szene zu Szene. Ein Tempo, das sich bis zur Pause hält, danach aber immer mehr in einen chaotischen Drehbühnen-Run mündet. Die Inszenierung beginnt sich immer schneller im Kreis zu drehen, es wird getanzt, gesungen, und bei der immer lauter werdenden Musik müssen schließlich die Texte per Übertitel eingeblendet werden.

Kasimir steppt sich minutenlang seinen Frust vom Leib und spült erschöpft mit reichlich Bier nach. Die Luft scheint nicht nur aus den Bällen raus, auch die Handlung zerfasert dabei fast komplett

Dass die Idee der Verquickung beider Stücke dennoch aufgeht, verdankt sie den Schwestern im Geiste Karoline und Elisabeth sowie ihren eindrucksvollen Darstellerinnen Maja Schöne und Birte Schnöink, die mit ihrem Spiel den getriebenen Frauenfiguren viel Glaubwürdigkeit und trotz aller Demütigungen auch Würde verleihen können. Die am Ende von Elisabeth verzweifelt ans Publikum gerichtete Frage, wer denn zuständig sei, kann man dann getrost als Aufforderung mit nach Hause nehmen.



Kasimir und Karoline - Glauben Lieben Hoffen am Thalia Theater Hamburg | Foto (C) Krafft Angerer

Stefan Bock - 8. Dezember 2015
ID 9028
KASIMIR UND KAROLINE - GLAUBEN LIEBEN HOFFEN (Thalia Theater Hamburg, 04.12.2015)
Regie: Jette Steckel
Bühne: Florian Lösche
Kostüme: Pauline Hüners
Musik: Anton Spielmann (1000 Robota)
Dramaturgie: Julia Lochte
Mit: Mirco Kreibich (Kasimir), Matthias Leja (Oberpräparator Konrad Rauch), Oliver Mallison (Amtsgerichtsrat Werner Speer), Karin Neuhäuser (Erna Reitmeier), Sebastian Rudolph (Präparator Eugen), Birte Schnöink (Elisabeth), Maja Schöne (Karoline), André Szymanski (Franz Merkl), Sebastian Zimmler (Schupo Alfons Klostermeyer) und Patrycia Ziolkowska (Hermine Prantl-Speer, Sanitäterin) sowie den Musikern Gabriel Coburger (Basklarinette, Flöte, Tenorsaxophon), Olvier Gutzeit (Altsaxophon), Stephan Krause (Percussion) und Christophe Schweizer (Posaune, Tuba, Alphorn, Trompete)
Premiere war am 26. November 2015
Weitere Termine: 11., 12. 12. 2015 / 2., 3., 5., 11., 13., 14. 1. 2016


Weitere Infos siehe auch: http://www.thalia-theater.de


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de



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