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In der Wahrheit leben?

DIE WILDENTE an der Schaubühne Berlin

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Die Figuren im Drama erzählen einander (und dem Publikum) aller­lei. Ob sie freilich die Wahrheit sagen, wissen wir nicht. Anders als in Erzähltexten, existiert auf der Bühne keine Instanz, die uns Auskunft gäbe über das nicht ausgesprochene Bewusstsein der Protagonisten. Dabei kommt es nicht selten vor, dass die Bühnenfiguren keineswegs nur einander (mit Absicht) belügen. Oft machen sie sich selbst etwas vor. In der Psychologie spricht man von „Lebenslüge“ oder auch „Realitätsverlust“. Wo der Selbstbetrug eine fiktive Figur im Theater kennzeichnet, erkennen wir das aus dem Ablauf der Handlung, aus Widersprüchen zwischen verbalen Deklarationen und dem, was auf der Bühne nach und nach passiert. Die Weltliteratur – nicht allein die dramati­sche – ist reich an Figuren, die an Realitätsverlust leiden oder, positiv formuliert, zum Fabulieren neigen, zur Verwechslung von Fantasie und Wirklichkeit, also zu genau dem, was einen großen Teil der Literatur ausmacht.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts häuften sich, nicht zuletzt unter dem Einfluss der Forschungen von Sigmund Freud, die Dramen, die die Lebenslüge zum Thema haben. Man denke etwa an Tschechows Drei Schwestern, an Gorkis Nachtasyl, an Synges Held der westlichen Welt, an Molnars Liliom, an O'Neills Fast ein Poet und Der Eismann kommt, an Williams' Glasmenagerie, an Millers Tod eines Handlungsreisenden. Das Modell hat Die Wildente von Henrik Ibsen geliefert.

Dass die Stücke Ibsens landauf landab die Spielpläne füllen, kann kein Versehen sein. Offenkundig erkennt das Theaterpublikum in der Gesellschaft, die der Norweger vor mehr als einem Jahrhundert diagnostiziert hat, unsere heutige Gesellschaft wieder. Die Grundzüge der bürgerlichen Ordnung, ihre Strukturen und inneren Widersprüche sind, bei mancher äußerlichen Veränderung, gleich geblieben. Thematisch, das lässt sich nicht leugnen, erscheinen fast alle Stücke Ibsens aktuell, als stammten sie von einem Zeitgenossen.

Das Thema der Lebenslüge ist für das Theater ein gefundenes Fressen. Es hat in sich bereits einen dialogischen Charakter. Sie kann das Leben erträglicher machen oder, im Gegenteil, erst das Elend bewirken, das der Versuch, in der Wahrheit zu leben (Václav Havel), zu versprechen scheint.

Eine der interessantesten Inszenierungen fand 2004 am Berliner Ensemble in der Regie von Thomas Langhoff und mit solchen unvergessenen Schauspielvirtuosen wie dem Gast vom Burgtheater Johann Adam Oest, Ulrich Noethen, Axel Werner, Christina Drechsler, Peter Fitz und dem einzigartigen Walter Schmidinger statt. Soll ein Stück Ibsens Spannung entwickeln, darf sich die Regie nicht allein auf die Dialoge verlassen. Sie muss Interesse an den Figuren herausfordern, das psychologische Potenzial in Gänge, Gesten, Mimik übersetzen. Und das konnten wenige so trefflich wie der langjährige Intendant des Deutschen Theaters Thomas Langhoff. Seine Stärke war seit je, auch in den Jahren des forcierten Regietheaters, die genaue Lektüre der Texte und die sorgfältige Arbeit mit den Schauspielern. Die Wildente, wie er sie am Berliner Ensemble vorführte, hatte nichts Spektakuläres, bot keinerlei Neuinterpretation. Was sie zum Erlebnis machte, waren die Darsteller, ihre Präzision im Ausdruck, ihre phänomenale Präsenz. Man könnte von einer Rückkehr zum Schauspielertheater der fünfziger Jahre sprechen, aber das wäre nur die halbe Wahrheit. Denn hinter der Ensembleleistung, die keinem erlaubt, sich auf Kosten der anderen an die Rampe zu spielen, erkannte man die ordnende Hand Thomas Langhoffs.

*

Festivals werden zunehmend zu Stätten von Vorpremieren. In den USA finden sie oft in der Provinz statt, wo sie den letzten Schliff erhalten. In Europa schmücken sich die Wallfahrtsorte des Theaters mit ihnen. Im vergangenen Sommer glänzte der Langhoff-„Schüler“ Thomas Ostermeier mit seiner Schaubühne (aber ohne den vergötterten Lars Eidinger) und der Wildente, wie schon zuvor mit Ein Volksfeind, beim renommierten Festival d'Avignon. Jetzt ist die Inszenierung daheim in Berlin angelangt. Hier passt sie wie maßgeschneidert in den normalen Spielplan, auf dem, nicht alltäglich, Hedda Gabler seit zwanzig, der jüngste Hamlet nach den Versionen von Klaus Michael Grüber und Peter Zadek seit siebzehn, Ein Volksfeind seit dreizehn, Richard III. seit zehn und Professor Bernhardi seit neun Jahren steht. Der Ausnahmecharakter der Veranstaltungen westlich von Salzburg ist nur noch Legende, Vorwand für finanzielle Beteiligung von subventionierten Häusern und Anlass zur Selbstdarstellung eines großenteils betuchten Publikums. Und Ibsen gehört ohnedies zu Ostermeiers Favoriten. Sechs Inszenierungen platzieren ihn bei dem Regisseur und Theaterleiter Kopf an Kopf mit Shakespeare.

Der große Theaterabend allerdings, den man sich erhofft hätte, ist diese Wildente, wie schon der überwiegende Teil der Reaktionen aus Avignon befürchten ließ, nicht geworden. Das geht wesentlich auf das Konto der Fassung, die Thomas Ostermeier zusammen mit seiner Dramaturgin Maja Zade erstellt hat. Beim Transport von den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts in die Gegenwart, ohne den es offenbar nicht mehr geht, beweisen die Bearbeiter in erster Linie, dass sie den modischen Jargon der heutigen Umgangssprache beherrschen. Das klingt für sich genommen schon eher läppisch als erhellend. Was schwerer wiegt: Es entfremdet die Story dem bürgerlichen Milieu, gegen das sich Ibsens Kritik, nicht nur in diesem Stück, ganz zentral richtet. Damit aber nimmt ihm das Überschreibungsduo den politischen Biss zugunsten einer vermeintlichen Allgemeingültigkeit. Es kennt keine Klassen mehr, es kennt nur noch die Lebenslüge und ihre Bekämpfung als dramatische Vorlage.

Ostermeier unterstreicht die Einteilung des Stücks in traditionelle fünf Akte mittels Kostümen – Smoking und Lackschuhe versus Joggingkleidung und Sneakers -, Drehbühne und lauter Musik als Interpunktion. Der ruhige, überlegene Gestus setzt Gregers Werle (Marcel Kohler) gegenüber dem zappeligen, angestrengt jugendlichen Hjalmar Ekdal (Stefan Stern) ins Recht. Er ist nicht der Fanatiker, als der er in manchen Inszenierungen gespielt wird. Ostermeier hat sich entschieden. Die Wildente ist ja nicht bloß, wie gelegentlich behauptet wird, eine Anklage gegen die Lebenslüge und auch nicht eine Widerlegung von Gregers’ Wahrheitsideal. Relling (Davis Ruland), der Arzt und Gegenspieler von Gregers Werle, sagt gegen Ende des Stücks: „Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, nehmen Sie ihm auch sein Glück." Darin äußert sich Ibsens Aristokratismus, der in seinem Volksfeind noch deutlicher wird. Thomas Langhoff nahm diesen Ausspruch ernst. Sein Hjalmar Ekdal war ein Durchschnittsmensch, an ihm mussten „ideale Forderungen" jeglicher Art scheitern. Ostermeier geht noch einen Schritt weiter, fast bis zur Denunziation eines Unbelehrbaren.

In seinem Roman Holzfällen lässt Thomas Bernhard den namenlosen „Burgschauspieler“ wiederholt erklären, dass der alte Ekdal seine Lieblingsrolle und schwieriger zu spielen sei als der Hauptmann Edgar in Strindbergs Totentanz. Das wird bei Falk Rockstroh nicht deutlich. Er bleibt, anders als Walter Schmidinger, eine Nebenfigur, die periodisch auftaucht und wieder verschwindet wie der Kuckuck einer Kuckucksuhr:

Es endet wie Tschechows Möwe. Hier Hedvig (Magdalena Lermer), dort Konstantin: die Jungen zahlen für die Sünden der Alten. Dass Ostermeier dem Opfer nicht das letzte Wort, genauer: den letzten Schuss überlässt – geschenkt. Es herrscht die Logik des Apropos. Ich bestaune ein homogenes Theaterpublikum, das – nicht etwa bei Brecht oder Kipphardt, sondern bei Ibsen – den Duft von Anti-AKW und 68 mit sich trägt wie ein Bienenschwarm den Geschmack von Honig, und erinnere mich, apropos, daran, dass die AfD in Berlin mit 15 Prozent der Wählerstimmen rechnen darf. So ähnlich muss es wohl gewesen sein, als die SA-Truppen bereits durch die Straßen marschierten und die Tucholskys, Mühsams und Ossietzkys noch ein „normales“ Leben führten…



Ibsens Die Wildente an der Schaubühne Berlin - mit David Ruland, Marie Burchard, Stefan Stern, Magdalena Lermer und Marcel Kohler (v.l.n.r.) | Foto (C) Gianmarco Bresadola

Thomas Rothschild - 17. September 2025
ID 15467
DIE WILDENTE (Schaubühne am Lehniner Platz, 16.09.2025)
von Henrik Ibsen - in einer Fassung von Maja Zade und Thomas Ostermeier unter Verwendung der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel

Regie: Thomas Ostermeier
Bühne: Magda Willi
Kostüme: Vanessa Sampaio Borgmann
Musik: Sylvain Jacques
Dramaturgie: Maja Zade
Licht: Erich Schneider
Mit: Thomas Bading, Marie Burchard, Stephanie Eidt, Marcel Kohler, Magdalena Lermer, Falk Rockstroh, David Ruland und Stefan Stern
Berliner Premiere war am 12. September 2025.
Weitere Termine: 17., 18., 20., 21.09./ 23.-26.10.2025
Koproduktion mit dem Festival d’Avignon und dem Teatro di Roma – Teatro Nazionale


Weitere Infos siehe auch: https://www.schaubuehne.de


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