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nachDRUCK # 6

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Uraufführung

Der große

Türken-Führer

führt die

Türken - ja,

wohin dann

eigentlich?



(C) Esra Rotthoff

Bewertung:    



Der "westliche" Beliebtheitspegel des türkischen Staatspräsidenten bewegt sich aktuell und hundert pro von einstellig über die Nullzahl bis zu absoluten (mehrstelligen) Minusgraden, und das geht - wir ahnen es - dem großen Türken-Führer selbstverständlich "zum einen Ohr rein und zum anderen raus". Die zögerlichen Aufschreie, die aus dem "Westen" zu ihm wispern, sind ihres Vokabulars nicht wert, als dass sie ihn auch nur tangieren könnten. So entstehen, derart ungebremst von außen, Diktaturen; und wir Deutschen haben ungefähr dann eine Ahnung oder wenigstens einen Instinkt, wohin das Alles, so wie es sich momentan vom "westlichen" Beobachter aus deuten lässt, noch führen könnte. Zukunftsoptimismus jedenfalls sieht anders aus...

Die Intendantin des Berliner Maxim Gorki Theaters wandte sich daher auch letzten Samstag in einem vom Berliner Tagesspiegel veröffentlichten Offenen Brief an unsere Bundeskanzlerin:


"Liebe Bundeskanzlerin Angela Merkel, liebe Nachbarin des Maxim-Gorki-Theaters,

lassen Sie mich Ihnen meinen Dank ausdrücken für die Worte der Solidarität, die Sie wegen der drastischen Entwicklungen in der Türkei mit den Verhaftungen der Cumhuriyet-Journalisten vor wenigen Tagen fanden, als Sie sagten: 'Die Journalisten können sich unserer Solidarität gewiss sein, genauso wie all diejenigen, die in der Türkei für Presse- und Meinungsfreiheit eintreten.'

Sie wollen die Gespräche mit der Türkei fortsetzen, aber wenn Sie weitersprechen, müssen Sie deutlicher werden und die neuerlichen Verhaftungen auf das Schärfste verurteilen, zumal es spätestens seit gestern nicht nur meine KollegInnen aus Presse und Kunst betrifft, sondern auch gewählte ParlamentarierInnen und damit Ihre KollegInnen.

Dies ist keine 'alarmierende Situation' mehr, es handelt sich auch nicht mehr um Gleichschaltung der Medien und Maßnahmen gegen die sogenannte 4. Gewalt, sondern bedeutet faktisch die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie. Seit geraumer Zeit werden die rechtsstaatlichen Prinzipien in der Türkei mit Füßen getreten, Kritiker der Regierung zahlen den Preis mit Anfeindungen, Geldstrafen, Gefängnis, Gewalt und mit ihrem Leben.

Nicht wenige müssen aus diesen Gründen ihr Land verlassen, so auch Can Dündar, ehemaliger Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet, der Kolumnen für Die Zeit schreibt und seit Kurzem auch Kolumnist und Kollege am Gorki-Theater ist und damit auch Ihr Nachbar. Er steht stellvertretend für viele weitere Nachbarn von Ihnen, denn gerade als Theater mit vielfältigen künstlerischen Verbindungen in die Türkei spüren wir die Konsequenzen dieser nicht hinzunehmenden Entwicklungen hautnah.

Jeden Tag kommen neue KollegInnen bei uns an, die in der Türkei durch Missachtung der Presse- und Meinungsfreiheit schweren Repressalien ausgesetzt sind und unserer Unterstützung bedürfen. Andere sitzen bereits in Gefängnissen, wie die Schriftstellerin Asli Erdogan, die aktuell einen eindringlichen Appell an die europäische Öffentlichkeit formuliert hat, in dem sie Europa zu Recht vorwirft, 'den totalen Verlust der Demokratie in der Türkei zu unterschätzen'. Sie fordert Europa und damit Sie und uns auf, Verantwortung zu übernehmen.

Neben Worten der Solidarität sind Sie und wir dringend aufgerufen zu handeln, damit das faktisch existierende totalitäre Regime in der Türkei nicht gänzlich in eine islamofaschistische Diktatur abdriftet. Alle wirtschaftlichen und politischen Beziehungen von Deutschland und Europa mit der Türkei müssen spätestens jetzt grundsätzlich überprüft werden. Denn die Dissonanzen zwischen unseren Worten und Taten sind unerträglicher denn je.

Es grüßt Sie aus der ehemaligen Singakademie, erbaut im Zeichen der Aufklärung und universeller Werte,

Ihre Nachbarin

Shermin Langhoff"


(Quelle: tagesspiegel.de)



Gut gebrüllt, Löwin! muss man an dieser Stelle unverzüglich jubilieren und - im Umkehrschluss, was das betrifft - am besten gleich zur Tagesordnung der Theater, den bestellte IntendantInnen in ihren Führungsrollen und Verantwortungen vorstehen, flugs übergehen. Seit sie (Shermin Langhoff) Chefin ihres Hauses ist, macht selbiges in puncto Migration also auch Migrationstheater laut und sehr erfolgreich von sich reden. Eine Art Alleinstellungsmerkmal für diese kleinste (staatlich subventionierte) Berliner Sprechbühne hat sich herausgeschält - das, was sie früher im Berlin-Kreuzberger Ballhaus Naunynstraße in wohl ebensolcher Weise laut/erfolgreich praktizierte, ist inzwischen seit fünf Jahren im Berliner Staatstheater-Betrieb hoffähig geworden. Gut, dass es also das Gorki, wie es derzeit ist, und seine selbstbewusste Intendantin gibt!!



Das gestern Abend in der Dorotheenstadt uraufgeführte und über 2 pausenlose Stunden sich arg provinziell dahinquälende Love it or leave it!-Projekt wird aus der Sicht seiner zwei Hauptmacher Nurkan Erpulat und Tunçay Kulaoğlu wie folgt erklärt:


"Wie holt man ein Land auf die Bühne, in dem zugedröhnte Omas vor laufenden Fernsehkameras sich bereit erklären, unbedingt das Arschhaar ihres angebeteten Staatsoberhauptes sein zu wollen? Ein Land, in dem Familienväter die oberste Religionsbehörde um Rat fragen, ob ihre Ehen nach Glaubensvorschriften null und nichtig seien, weil sie sich am nackten Fleisch ihrer eigenen Töchter aufgegeilt haben?

Ein Land, in dem Eltern ihre durch die Sicherheitskräfte getöteten Kinder tagelang im Gefrierschrank aufbahren müssen, weil ihre Häuser von der eigenen Armee beschossen werden.

Kann man die Türkei lieben oder muss man sie verlassen?

Oder sie erst gar nicht betreten?

Jenseits der sich seit Juli überschlagenden Ereignisse blickt
Love it or leave it! hinter die Fassaden einer Republik, die sich seit ihrer Gründung in einem Teufelskreis zu befinden scheint. Hinter gesellschaftlichen Mechanismen und Strukturen zwischenmenschlicher Beziehungen wird die Seele eines zerrissenen Landes erkennbar. Love it or leave it! nimmt den unscheinbaren Alltag unter die Lupe und versucht Antworten zu finden, weniger auf die Frage wie die Türkei dem Abgrund entgegen taumelt, sondern warum."

(Quelle: gorki.de)



Sechs Protagnonisten [Namen s.u.] werden uns als 4köpfiger Rumpf eines schier funktionierenden Familienbundes von in Deutschland lebenden und also assimilierten Türken vorgeführt: Vater, Mutter, Tochter, Sohn; also diejenigen, die dann wohl "noch" in häuslicher Gemeinschaft miteinander wohnen, denn es ist zudem von weitaus mehreren und hier "nicht mehr" anwesenden Verwandten nebenher die Rede. Zudem wird diese Familie unentwegt von einem sie und ihre Religion umsorgenden Iman besucht. Und schließlich kriegt ein Todesengel hin und wieder seinen Auftritt; wir vermuten stark, dass dieser Untote dem kurdisch-kämpferischen Spektrum zuzuordnen sein könnte, denn seine Blutgetränktheit rührt wohl sicherlich von einer Kopfverletzung, es sieht also aus, als ob er scharfschussmäßig hingerichtet worden wäre oder so. Dazu passt auch, dass diese Wohnung sich unmittelbar im Umkreis kriegsähnlicher Explosionen zu befinden scheint und - so gesehen - doch vielleicht nicht "hier in Deutschland", sondern Nähe Bosporus gelegen ist? Dieser Gedanke ließ sich bis zum Schluss des Rätsel aufgebenden Anti-Erdogan-Events nicht völlig von der Hand weisen.

Alles beginnt und endet mit 'nem Stillleben in Marthaler-Manier. Man ist zum Schweigen und zum Teetrinken versammelt, und der phänomenal sein Instrumentarium beherrschende Philipp Haagen spielt hierzu auf dem Harmonium und noch etwas später auf der Tuba. Zwischen dieser jeweils etwa 10 Minuten währenden performativen Rahmenhandlung tut sich dann viel "Innertürkisches" abspielen, und man wird so einiger rein innerfamiliär anmutender Beziehungskisten nach und nach gewahr. Jeder hat dann auch einen schönen langen Monolog (Texte: Emre Akal), wo insbesondere zu seinem höchstpersönlichen Familien- oder Landes- und/oder Gesellschaftsanteil stichwortmäßig abgehoben wird. Und:

In der Mitte von Alissa Kolbuschs Einheitsbühne wird eine Banenenstaude als die sinnbildlich mit einer Leckerfrucht symbolisierte Europäische Union zum Gold'nen Kalb, worum sich Alle dann per ungezügelt dargereichten Appetitsgrimassen scharen; das nun wiederum hat eine ziemlich denunziantisch-abgeschmackte Komponente, deren bissiger Humor nicht richtig greift oder zu greifen schien.

*

Was wolltet ihr mir eigentlich am Ende mit dem Allen sagen? Hoffentlich nicht etwas, was ich so schon zugenüge wusste [s. Anti-Erdogan-Replik am Anfang dieses Textes]!

Andre Sokolowski - 12. November 2016
ID 9681
LOVE IT OR LEAVE IT! (Maxim Gorki Theater, 11.11.2016)
Regie: Nurkan Erpulat
Text: Emre Akal
Ausstatter: Alissa Kolbusch
Musik: Philipp Haagen
Dramaturgie: Tunçay Kulaoğlu
Mit: Lea Draeger, Aylin Esener, Philipp Haagen, Tom Porath, Taner Şahintürk und Mehmet Yılmaz
Uraufführung war am 11. November 2016
Weitere Termine: 18., 23. 11. / 23., 28. 12. 2016


Weitere Infos siehe auch: http://www.gorki.de


http://www.andre-sokolowski.de

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