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Premierenkritik

Das Düster-

Biblische in der

Kapitalismus-

parabel von

Brecht und

Weill



Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny an der Komischen Oper Berlin | Foto (C) Iko Freese/drama-berlin.de

Bewertung:    



Barrie Kosky, der scheidende Intendant der Komischen Oper, inszeniert in seiner letzten Berliner Spielzeit Brecht/Weill im Doppelpack. Die Dreigroschenoper am Berliner Ensemble durften wir schon bewundern. Nun folgt mit Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny am Stammhaus in der Behrenstraße die 1930, zwei Jahre nach dem Erfolg am Schiffbauerdamm uraufgeführte nächste gemeinsame Arbeit von Bertolt Brecht und Kurt Weill. Man könnte die Oper auch als konsequente Fortsetzung verstehen, obwohl die Idee zu Mahagonny bereits aus dem Jahr 1927 stammt. Die Songs des für ein Musikfest in Baden-Baden komponierten gleichnamigen Songspiels hatte Kurt Weill später für großes Orchester neu arrangierte. Wie in der Dreigroschenoper kommt in Mahagonny zuerst das Fressen, wobei es die ProtagonistInnen der Oper mit der Moral auch nicht so genau nehmen und Liebesakt, Boxen und Saufen nachfolgen lassen. Laut Kontrakt versteht sich. Der gelobte Ort ist ein modernes Sodom und Gomorra, an dem man alles dürfen darf, wenn man nur dafür zahlen kann.

Eine typisch Brecht’sche Kapitalismusparabel also, die immer wieder gern gespielt wird. An der Komischen Oper zum letzten Mal 2006 in der Regie von Andreas Homoki, dem Vorgänger von Barrie Kosky. Der Ausflug an den Schiffbauerdamm geriet dem bekennenden Weill-Fan allerdings etwas zu operettenhaft. Ähnliches kann man über seine Mahagonny-Inszenierung nicht sagen, steht Kosky doch nun ein erstklassiges Opernpersonal zur Verfügung. Hier herrscht zunächst nur ein eher etwas schlampiger Shabby-Chik der Kostüme von Klaus Bruns, der Koskys Hang zum Flitter konterkariert. Auch die Bühne von Klaus Grünberg ist weitestgehend leergeräumt und wird nur durch einen schwarzen Rautenvorhang (Achtung: Netzestadt) begrenzt.

Fatty, der Prokurist (Ivan Tursic), und Dreieinigkeitsmoses (Jens Larsen), die zusammen mit der Witwe Begbick (Nadine Weissmann) auf der Flucht in der Wüste gestrandet sind, schauen zu Beginn mit Büchern in den Händen aus dem Bühnenboden. Sie tragen das Outfit eines orthodoxen Juden mit Kippa und Schläfenlocken und eines katholischen Priesters im Talar. Das mag etwas verwundern, aber Regisseur Kosky legt hier schon die Spur seiner Inszenierungsidee, die parabelhafte Mahagonny-Oper, die ja biblische Verweise zu Hauf enthält, als Mischung aus Altem und Neuem Testament zu lesen. Die Wüsten-Stadt Mahagonny, das gelobte Land des auserwählten Volks, das sein Paradies selbst in ein Sodom und Gomorra verwandelt und mit dem Einzug des Holzfällers Jimmy Mahoney seinen Messias erhält, der hier einen Kreuzweg bis zur finalen Hinrichtung geht, ist ja durchaus intendiert.

Man kann das alles aber auch getrost sofort wieder vergessen und sich allein auf Brechts Text und die grandiose Musik Weills konzentrieren. Kosky unternimmt nicht allzu viel, was davon groß ablenken würde. Außer, dass er seinen Helden Jimmy Mahoney vom Amüsement in Mahagonny gelangweilt in den auf die Bühne gerollten Flügel pinkelt lässt. Auch eine Form von Kunstkritik. Allan Clayton im karierten Holzfällerhemd ist nicht nur deswegen der Kraftquell der Inszenierung, auch sein kräftiger Tenor lässt nichts zu wünschen übrig. Neben ihm glänzt gesanglich vor allem Nadja MchaDrntaf als Hure Jenny Hill. Aber ihre Liebe bleibt geschäftsmäßig unterkühlt wie die bis dahin etwas runtergedimmte Musik (Dirigat: Ainārs Rubiķis), die erst nach der Pause, wenn der Hurrikan an Mahagonny vorbeigezogen und die Parole: „Du darfst!“ ausgegeben ist, an Fahrt aufnimmt. Nun glänzen auch die Kostüme des Chors (Einstudierung: David Cavelius).

Mehr Flitter ist nicht. Kosky belässt es düster, nichts mit Glückseligkeit. Er lässt Jim einen schwarzen Widder ausweiden, an dem sich Freund Jack O’Brien (Philipp Kapeller) totfrisst, Joe (Tijl Faveyts) wird unter die Bühne geboxt, wo Jenny den Ansturm der Freier erwartet. Das Prinzip, nicht alles direkt zu bebildern, hält Kosky weitestgehend durch. Sein Augenmerkt liegt offensichtlich an Jim, der, nachdem er seinen Whisky nicht mehr zahlen kann, als geblendeter Simson gefesselt und vervielfacht zum „Nur die Nacht darf nicht aufhör'n“ über die nun mit hohen Spiegelwänden begrenzte Bühne irrt.

Als lächerliche Gottfigur fährt zum Prozess gegen Jim noch eine Affenpuppe auf einem Tretauto auf. Hier braucht es tatsächlich keinen Hurrikan, der Mensch ist sich selbst ein Wolf, und nacheinander erstechen alle den zum Tode verurteilte Jim. Diese Art von Drastik ist dann auch der Höhepunkt von Koskys Interpretationswillen. Der Chor zeigt nun keine Spruchbänder, sondern singt, vom Regisseur hinter die Bühne verbannt, dem allein in seinem Blute liegenden Jim das fatalistische „Können einem toten Mann nicht helfen!“ Bei allem Sarkasmus ist das keine „totale Scheiße“, wie kurz aus dem Parkett zu hören war, sondern einfach nur konsequent. Einmütiger Beifall auch für den Regisseur.



Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny an der Komischen Oper Berlin | Foto (C) Iko Freese/drama-berlin.de

Stefan Bock - 3. Oktober 2021
ID 13184
AUFSTIEG UND FALL DER STADT MAHAGONNY (Komische Oper Berlin, 02.10.2021)
Musikalische Leitung: Ainārs Rubiķis
Inszenierung: Barrie Kosky
Bühnenbild und Licht: Klaus Grünberg
Bühnenbildmitarbeit: Anne Kuhn
Kostüme: Klaus Bruns
Dramaturgie: Maximilian Hagemeyer
Chöre: David Cavelius
Besetzung:
Leokadja Begbick ... Nadine Weissmann
Fatty, der »Prokurist« ... Ivan Turšić
Dreieinigkeitsmoses ... Jens Larsen
Jenny Hill ... Nadja MchaDrntaf
Jim Mahoney ... Allan Clayton
Jack O’Brien ... Philipp Kapeller
Bill, genannt Sparbüchsenbill ... Tom Erik Lie
Joe, genannt Alaskawolfjoe ... Tijl Faveyts
Toby Higgins ... Adrian Kramer
Chorsolisten und Orchester der Komischen Oper Berlin
Premiere war am 2. Oktober 2021.
Weitere Termine: 09., 14., 17., 21., 23., 29.10. / 07., 13.11.2021


Weitere Infos siehe auch: https://www.komische-oper-berlin.de/


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