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Repertoire

Die Wunde am

Oberschenkel



Woyzeck am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Julian Baumann

Bewertung:    



Der Regisseur Zino Wey hat Woyzeck mit einer Giraffe besetzt. Halt, da habe ich mich vertan. Die passt nicht durch den Bühneneingang. Nein, er hat Büchners verwirrten Soldaten und gepiesackten Untertan mit einer Frau besetzt. Das ist in diesen Tagen ungefähr so originell wie wenn man im Supermarkt laktosefreie Milch anbietet. Nun kann man eine Frau einen Mann spielen lassen, wie man einen wohlsituierten Schauspieler in der Rolle eines getretenen Mörders, einen aufrechten Antisemiten als den Juden Shylock, eine kerzengerade stehende Schauspielerin als dem Dialog nach knieende Maria Stuart zeigen kann, oder wie im hier besprochenen Fall einem glattrasierten Tambourmajor „ein Bart wie ein Löw“ attestiert werden kann. Theater besteht auf dem Als-ob und vertraut auf die Imagination der Zuschauer. Geschlecht ist nur eine von vielen, wenn auch erkennbarere als andere Eigenschaften, die auf der Bühne vernachlässigt und der Vorstellungskraft des Publikums überlassen werden können. Aber wenn der Geschlechtertausch nicht bloße Willkür oder eine Rollenbeschaffungsmaßnahme für unterbeschäftigte Mitglieder des Ensembles sein soll, muss er eine Bedeutung haben. Die erschließt sich beim jüngsten Stuttgarter Woyzeck nicht. Sylvana Krappatsch spielt die Titelrolle. Das war‘s aber dann schon. Eine Giraffe wäre sensationeller.

Es ließe sich durchaus ein Kriterienkatalog denken, der Georg Büchner einen höheren Rang verleiht als Goethe. Er hatte halt das Pech, sehr viel jünger zu sterben. Jedenfalls ist Woyzeck, obgleich Fragment geblieben, eins der aufregendsten Dramen der deutschen Literatur und, unter uns, heute eher unter die Haut gehend als Faust oder Iphigenie auf Tauris. Hasko Weber hat sich während seiner Stuttgarter Intendanz mit gutem Grund entschlossen, das vielfältig interpretierbare Stück in jeder Spielzeit von einem anderen Regisseur inszenieren zu lassen. Und in der Tat: jeder Versuch brachte neue Aspekte zum Vorschein, ehe Webers ungewöhnliches Projekt eingestellt wurde. Inzwischen ist mehr als ein Jahrzehnt vergangen, und Zino Wey präsentiert seine Lesart. Zugleich belegt er, wie sehr bestimmte Theatermoden zeitbedingt sind – das macht sie ja zu Moden.

Mit Realismus hat Wey nichts im Sinn. Sein Woyzeck kommt als eine Art Traumspiel daher. Die knapp eineinhalbstündige Stuttgarter Fassung verzichtet auf einige vertraute Szenen und wertet andere dafür auf. Von Anfang an steht und singt wenig kunstvoll und ohne Instrumentalbegleitung ein Mann im Glitzerhemd, mit roter Hose, Fellweste und weißem Hut am Bühnenrand. Es ist der Idiot, der bei Büchner nur eine marginale Rolle spielt. Er erzählt auch das Märchen, das Büchner der hier fehlenden Großmutter in den Mund legt. Wieder eine gestrichene Frauenrolle, zumal eine für eine ältere Schauspielerin. Akteure schieben, nach vorne gebeugt, Holzkisten mit Schalltrichtern auf die leere schwarze Bühne, in deren Hintergrund später ein Netz mit blinkenden farbigen Lämpchen herabhängt. Ein Panoptikum Büchnerscher Figuren nimmt Aufstellung wie in einem Kuriositätenkabinett. Dann kündigt der Marktschreier, der eine Marktschreierin ist, das „astronomische Pferd“ an.

Schlüsselszene Woyzeck und Hauptmann. Woyzeck rasiert dem Hauptmann, der Woyzeck zur Langsamkeit mahnt, nicht die Wangen, sondern eine Wunde am Oberschenkel, an dem er zunächst den Verband wechselt. So weit, so grauslich. Und was sagt uns das? Wenn man es nur wüsste!

Am Schluss erwürgt Woyzeck mit den Händen und ohne Messer, aber mit verzerrtem Gesicht die untreue Marie. Heftiges Zittern kündigt den nahenden Wahnsinn an. Das Licht geht aus. Eines langen Tages Reise in die Nacht. Und wir haben immer noch nicht erfahren, warum Woyzeck eine Frau sein musste. Das wäre doch etwas für Sylvana Krappatsch: Die Mary Tyrone. Von Eugene
O´Neill. Die ist schon beim Autor eine Frau. In Stuttgart wurde sie von einem Mann gespielt.



Woyzeck am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Julian Baumann

Thomas Rothschild – 14. Februar 2020 (2)
ID 12000
WOYZECK (Schauspiel Stuttgart, 13.02.2020)
Inszenierung: Zino Wey
Bühne: Davy van Gerven
Kostüme: Veronika Schneider
Musik: Max Kühn
Licht: Rüdiger Benz
Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger
Mit: Sylvana Krappatsch, Paula Skorupa, Matthias Leja, Sven Prietz, Sebastian Röhrle,Valentin Richter, Robert Rožić, Gabriele Hintermaier und der Kinderstatisterie
Premiere war am 24. Januar 2020.
Weitere Termine: 14.02. / 11., 18., 23.03. / 11.04. / 04., 10., 22., 30.05.2020


Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel-stuttgart.de/


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