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Neue Stücke

Éduard Louis´

autobiografischer

Roman

IM HERZEN DER GEWALT
an der Berliner Schaubühne


Im Herzen der Gewalt an der Schaubühne Berlin | Foto (C) Arno Declair

Bewertung:    



Der auch sonst recht frankophile Theaterregisseur und künstlerische Schaubühnendirektor Thomas Ostermeier hat gerade einen Lauf mit französischen Romanstoffen. Nach der Adaption von Didier Eribons autobiografischem Werk Rückkehr nach Reims im letzten Jahr erarbeitete er nun eine Bühnenfassung des ebenfalls auf wahren Begebenheiten beruhenden Romans Im Herzen der Gewalt von Eribon-Freund und -Schüler Éduard Louis, an der dieser auch selbst mitwirkte und die Anfang Juni in der Berliner Schaubühne ihre deutschsprachige Erstaufführung erlebte.

Halb Kriminalgeschichte, halb Sozial- und Gesellschaftsstudie befasst sich der Roman - ähnlich wie Eribons Buch - mit den sozialen Schranken zwischen Frankreichs unteren Schichten und dem links-intellektuellem Bürgertum. Auch Édouard Louis stammt aus einer nordfranzösischen Arbeiterfamilie, aus deren rechtslastigem Milieu sich der junge Homosexuelle durch seinen Weggang zum Studium nach Paris befreite. Der im Roman geschilderte Vorfall einer Vergewaltigung durch einen jungen algerischen Migranten kabylischer Herkunft lässt den dadurch sowie durch Ereignisse im Krankenhaus und bei den polizeilichen Ermittlungen Traumatisierten zu seine Familie zurückkehren, um beim gemeinsamen Rekapitulieren des Erlebten die verlorene Deutungshoheit darüber wiederzuerlangen. Ein Vorgang, der ihn tief in die rassistischen Abgründe der französischen Gesellschaft blicken, aber auch eigene Denkweisen und Vorurteile reflektieren lässt.

Thomas Ostermeier inszeniert diese erneute Rückkehr in die Kindheit und Jugend eines in der Provinz aufgewachsenen und ins gebildete Intellektuellen-Milieu aufstrebenden Schwulen als aufwühlenden Tatsachenbericht, der durch Éduard (Laurenz Laufenberg) und seine Schwester Clara (Alina Stiegler) in sich überlagernden und gegenseitig korrigierenden Erzählungen wiedergegeben wird. Ein recht spannendes Verfahren, das zusätzlich durch auf die Rückwand projizierte Videoeinblendungen von Sébastien Dupouey mit einer Handykamera gefilmten Livebildern und der rhythmischen Begleitung durch Schlagzeuger Thomas Witte unterstützt wird.

Laufenbergs Éduard ist dabei stets anwesend, spricht ins Mikro oder hört den Gesprächen von Clara zu, die ihrem Mann (Christoph Gawenda) die Geschichte ihres Bruder schildert, was dieser immer wieder auch korrigierend kommentiert. In weiteren Rollen stellen Stiegler und Gawenda wechselnd Krankenhausmitarbeiter, Ermittlungsbeamte oder Polizisten dar, die den Berichten Éduards ihre eigene stereotype Sicht vom Täter maghrebinischen Typus suggerieren. Renato Schuch spielt jenen jungen und stolzen Kabylen Reda, der Éduard eines nachts auf dem Nachhauseweg anspricht, ob sie nicht noch etwas gemeinsam trinken wollen, den sich erst spröde Gebenden dann schließlich überreden kann, zu Éduard nach Hause zu gehen, wo beide eine stürmische Nacht verbringen, an deren Ende dann doch eine böse Überraschung steht. Als Éduard bemerkt, dass sein Handy fehlt, will er Reda zur Rede stellen. Dieser flippt aber wegen der Verdächtigung völlig aus, beschimpft und würgt Éduard, bedroht ihn mit einer Pistole und vergewaltigt ihn schließlich.

Diese dialogischen Szenen, in denen sich beide auch von ihrer Familie und Herkunft erzählen, sind mit höchster Intensität und Intimität gespielt, noch verstärkt durch die ständigen Großaufnahmen der Handykamera. Die Gewaltexzesse sind sicher schwer erträglich, geben einem aber zumindest im Ansatz einen Einblick den Grundkonflikt des jungen, missbrauchten Intellektuellen, der um die richtige Verarbeitung und grundsätzliche Einordnung der Geschehnisse kämpft und sich dabei mit der einseitigen Deutung der Staatsorgane sowie mit den Vorwürfen seiner Schwester, sich nicht mehr für seine Familie zu interessieren und für seine Herkunft zu schämen, nicht im Einklang sieht.

Éduards Aufbegehren geht mal im wummernden Beat des Schlagzeugs unter, mal übertrumpft ihn die redegewandte Schwester, die ihn mit seinen eigenen Ressentiments, Erinnerungslücken und der Vergangenheit in Gestalt der durch Gawenda travestierten Mutter konfrontiert. Éduard hat sich eine ganz eigene Sicht der Dinge zurechtgelegt, die auf kleineren und größeren Lügen basiert, eine Strategie, die er auch zum Leben braucht und die ihm eine Weiter- und Überleben erst ermöglicht. Er begründet das zum Schluss auch mit einem Zitat aus Hannah Arendts Essay Die Lüge in der Politik.

Éduard Louis hat in einem Interview mit dem Tagesspiegel gesagt: „Die Polizei, die Justiz, hat mir meine Geschichte gestohlen. Wenn Thomas [Ostermeier, Anm. d. Red.] sie erzählt, fühlt sich das an wie eine Befreiung.“ Roman wie Inszenierung loten dabei die Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks und der Verständigung auch darstellerisch in kleinen, gemeinsamen Tanzchoreografien aus. Literatur und Theater als Kunstform, die versucht, durch gemeinsames Erzählen soziale Krankheiten der Gesellschaft zu therapieren. Ein Anspruch, dessen Erfüllung Thomas Ostermeier mit seiner Inszenierung im narrativen wie spielerischen Erleben auch dank der guten Vorlage hier recht nahe kommt. Der Regisseur knüpft damit an sein an sozialen Stoffen orientiertes Frühwerk in der DT-Baracke [Shoppen & Ficken beispielsweise] an, was sich vor allem auch im recht körperlichen Spiel des Ensembles zeigt.



Im Herzen der Gewalt an der Schaubühne Berlin | Foto (C) Arno Declair

Stefan Bock - 4. Juli 2018
ID 10788
IM HERZEN DER GEWALT (Schaubühne am Lehniner Platz, 01.07.2018)
Regie: Thomas Ostermeier
Mitarbeit Regie: David Stöhr
Bühne und Kostüme: Nina Wetzel
Musik: Nils Ostendorf
Video: Sébastien Dupouey
Dramaturgie: Florian Borchmeyer
Licht: Michael Wetzel
Mitarbeit Choreographie: Johanna Lemke
Mit: Christoph Gawenda, Laurenz Laufenberg, Renato Schuch und Alina Stiegler sowie dem Musiker Thomas Witte
Premiere der DSE war am 3. Juni 2018.
Weiterer Termin: 04.07.2018


Weitere Infos siehe auch: http://www.schaubuehne.de/


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blog.theater-nachtgedanken.de

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