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Buchkritik

Im Herzen

der Geschichte



Bewertung:    



Mit seinem packenden autobiografischen Romandebüt Das Ende von Eddy machte der heute fünfundzwanzigjährige Édouard Louis 2014 nachhaltig auf sich aufmerksam. Auch in seinem neuen Roman verarbeitet der Autor seine eigene Biografie. Im Herzen der Gewalt handelt von einem traumatischen Erlebnis.

Édouard wird in der Nacht vom 24. auf dem 25. Dezember von einem Emigrantensohn mit algerischen Wurzeln, Reda, auf der Straße angesprochen. Édouard lässt sich, von einer Weihnachtsfeier leicht alkoholisiert, auf Redas sich steigernde Flirtversuche ein. Er nimmt Reda mit nach Hause, und sie haben dort mehrfach einvernehmlichen Sex. Am nächsten Morgen ertappt Édouard Reda dabei, wie er ihm verschiedene Objekte, zum Beispiel sein Smartphone und Tablet, entwendet hat. Als er ihn zur Rede stellt, flippt Reda aus. Er wird laut und bedroht Édouard mit einer Waffe. Später drosselt und vergewaltigt Reda Édouard. Endlich gelingt es dem Ich-Erzähler mit einer Überrumpelungstaktik nach der Vergewaltigung seinen Gast der Wohnung zu verweisen. Aufgewühlt besucht er danach die Notaufnahme eines nahe gelegenen Krankenhauses.

Im Herzen der Gewalt beschreibt die schwerwiegenden Folgen der Tat aus der Sicht Édouards. Scheinbar ausweglos kreist der Ich-Erzähler um die eigene Rolle als Opfer heftiger Gewalterfahrungen. Auf Zureden seiner Freunde Didier und Geoffroy zeigt der Ich-Erzähler Reda an, obwohl er große Angst vor einer Rachehandlung Redas hat.

Sprachlich beweist der Autor Feingefühl, wenn er Empfindungen wie Todesangst in Worten näherzubringen versucht. Für seine zwanghaft ausufernden Gedanken findet er oft nur schwer einen Punkt:


„Das, was ich hätte sagen wollen, war verloren, ich spürte, dass etwas, das gesagt werden musste, verschwunden war, wenn es nicht im rechten Moment geäußert werden konnte, unumkehrbar, die Wahrheit entfernte sich, entglitt, ich spürte, wie jedes vor den Beamten geäußerte Wort andere Wörter sogleich unmöglich werden ließ, mir wurde klar, dass es einzelne Szenen, einzelne Details gab, die ich nicht erzählen durfte, wenn ich mich an das Ganze erinnern wollte, dass man sich nur mittels des Vergessens erinnern kann und dass ich, wenn die Polizeibeamten mich zwangen, mich an diese Dinge zu erinnern, das Ganze aus dem Blick verlieren würde.“ (S. 92)


Édouard schreibt über sich in der dritten Person, um auszudrücken, wie sehr er sich nach der Gewalterfahrung seinem eigenen Körper nicht mehr zugehörig und entfremdet fühlt (S. 201ff.). Die Geschichte wird auch bei fortwährenden Perspektivwechseln aus der Position einer Schwester Édouards, Clara, wiedergegeben, die diese ihrem Mann erzählt. Dabei lässt sie auch Vorurteile gegenüber dem eigenen Bruder laut werden, während derselbe sichtlich erschrocken an der Tür lauscht.

Die Philosophieprofessoren Didier Eribon und Geoffrey de Lagasnerie bemühen sich hingegen, Édouard nach der Tat beizustehen und ihn wieder aufzubauen. Die beiden sind, genau wie Édouard Louis selbst, prominente französische Autoren. Louis widmete de Lagasnerie übrigens den vorliegenden Roman.

Der Romantitel lautet im französischem Original von 2016 Histoire de la violence (Geschichte der Gewalt). Hier stellt der Autor einen Zusammenhang von der ihm selbst widerfahrenen und im Roman beschriebenen Geschichte mit Geschichte im Sinne von Historie her. In einem derartigen Ansinnen liegt aber auch eine Schwäche des Romans. Édouard nimmt als bekannter Erfolgsautor, mit einer Vielzahl ebenso prominenter Freunde, in der Pariser Gesellschaft eine herausgehobene Position ein. Diese besondere Position hinterfragt beziehungsweise berücksichtigt er in seinem Roman aber nicht. Das Verhalten der Polizei erscheint doch recht zuvorkommend, wenn Édouard gleich von drei Beamten nach der Protokollierung des Tathergangs in seine Wohnung gefahren wird, wo dann vier ambitionierte Beamte sich intensiv der Spurensicherung widmen. Es gibt keine nennenswerten kritischen Anmerkungen von Seiten der Polizei dazu, dass es vor der Vergewaltigung mehrfach einvernehmlichen Sexualkontakt gab. Ob die Polizei auch bei weniger prominenten Opfern eine ähnliche Sensibilität an den Tag legt, ist unklar. Im Roman kann die Pariser Polizei jedenfalls mit einem recht tadellosen Einsatz glänzen. Aus der Perspektive wissenschaftlicher Forschung könnte man also, wenn man im Sinne des Originaltitels vom Einzelschicksal des Ich-Erzählers auf die Allgemeinheit schließen möchte, von einem Versuchsleitereffekt sprechen, dass also durch die Person des Forschers (im Roman also der Protagonist) die Ergebnisse (im Roman das Verhalten der Polizei) unbeabsichtigt beeinflusst werden.

Denn vielleicht leistet sich die Polizei ganz bewusst keine groben Fehler oder Vorurteile, wie etwa die Diskriminierung schwuler Männer? Vielleicht bemühen sich die Beamten im Zuge von Louis Anschuldigungen besonders, weil sie die Öffentlichkeitswirksamkeit seiner Anklage bereits einkalkulieren?

Auch andere Fragen lässt der Autor bewusst offen, etwa ob ihm Tablet und Smartphone nun gestohlen wurden oder nicht und wie er im Zweifelsfall mit den Verlusten umging. Ob Reda nun gefasst wurde, lässt sich dann im Internet recherchieren. Hier heißt es, Édouard Louis habe seine Anklage wieder zurückgenommen. Auch die verwirrende Zeitangabe im Bucheinband, „an einem Weihnachtsabend […] gegen vier Uhr früh“, wird durch ähnlich inkongruente Zeitangaben, „gegen 2 Uhr morgens“ (S. 209) weiterverfolgt. Insgesamt schafft es Louis jedoch, authentisch ein facettenreiches Bild eines Opfers grober Gewalt zu vermitteln, dem es nach den Erfahrungen der Tat unmöglich scheint, zum Alltag zurückzukehren:


„Jedes Mal, wenn ein Kopf im Metro-Aufgang, aus einem Taxi oder aus dem Bahnhofsportal hinter mir auftauchte, dachte ich: Jetzt hat er mich aufgetrieben. Ich musste die Gesichter erst lange mustern, bis ich erkannte, dass es nicht Reda war, ich sah ihn überall, an dem Morgen wurde jedes Gesicht zu seinem, sogar, wenn die Person, die aus der Metro kam, nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihm hatte, selbst wenn es eine Frau war oder ein eher groß gewachsener Mann – Reda war klein -, dauerte es eine Weile, bevor mein Herz wieder langsamer schlug und Redas Gesicht, das ich über alle Gesichter legte, wieder verschwand, verschwamm, sich auflöste, verdunstete, und ich das reale Gesicht des Näherkommenden erkannte.“ (S. 169-170)
Ansgar Skoda - 6. November 2017 (2)
ID 10351
Link zum Buch: https://www.fischerverlage.de/buch/im_herzen_der_gewalt/9783103972429


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