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Besprechung

Apokalypse

BAAL - Residenztheater München


Bewertung:    



Was für eine bemerkenswerte Umkehrung der Vorzeichen. Am Freitag wieder - nach der kürzlich erfolgten Aufhebung des Helene-Weigel-Verbots aus den 1970er Jahren - im Rahmen von "Focus Fassbinder" im wiederentdeckten Schlöndorff-Film zu sehen, dann am Sonntag direkt auf der Bühne des Hauses der Berliner Festspiele zum letzten Mal: Baal von Bertolt Brecht. Frank Castorfs Inszenierung wird nach langer Verhandlung zwischen dem Suhrkamp Verlag und dem produzierenden Münchner Residenztheater nach dem THEATERTREFFEN nicht mehr zu sehen sein. Die Rechtewahrer der Brecht-Erben monierten zu viel nicht genehmigten Fremdtext und sahen die Werkeinheit in Gefahr. Dementsprechend groß auch das Interesse an dieser allerletzten Aufführung. Vor dem Haus wurde die letzte Karte von den Machern des TT-blog für angeblich weit über 100 € versteigert. Das Geld soll wegen des schmerzhaften Verlusts weiterer Aufführungstantiemen dem Suhrkamp Verlag zugute kommen. Vielleicht reicht das ja für ein paar Flaschen Schampus Marke Brecht-Erben Spätlese. Wohl bekommt’ s.

Was lässt sich nun zum eigentlichen Streitfall sagen? Auf den ersten Blick hat das auf der Bühne Gegebene mit dem originären Baal vom aufstrebenden Jungdichter Bertolt Brecht tatsächlich eher weniger zu tun. Frank „Bertolt Brecht“ Castorf spult hier seinen ganz eigenen Film vom Krieg in Indochina ab. Es ist 1953 kurz vor der Niederlage der Franzosen in Điện Biên Phủ. Das Kunst-Ego-Monster Baal (Aurel Manthai), Kumpel Ekart (Franz Pätzold) und Sophie Dechant (Andrea Wenzl) turnen durch die von Aleksandar Denic gebaute, monströse Bühnenlandschaft bestehend aus einem Army-Camp mit Kampfhubschrauber, einer echten Do-Lung-Hängebrücke und doppelstöckiger roter Pagode. Dazu wird satter Blues und Southern Rock vom Band eingespielt. Es stonert mächtig, bis sich Baal und seine hinzuerfundene Höllenbraut (Bibiana Beglau - man könnte sie auch eine irrlichternde Mephistopheline nennen) schließlich die Surfbretter schnappen und zu Quentin Tarantinos Pulp Fiction-Soundtrack auf den Wellen einer projizierten China-Beach reiten. Die Rede ist vom Napalm-Geruch am Morgen, und die Luft schmeckt nun auch deutlich nach Apokalypse Now. Bevor es allerdings zu easy listening wird, biegen die beiden gerade noch rechtzeitig in Richtung einer französischen Gummiplantage ab. Die folgende fast halbstündige Sequenz ist nur in der 2001 geschnitten Redux-Fassung von Francis Ford Coppolas legendärem Vietnamkriegsfilm aus dem Jahr 1979 enthalten, hat es aber dennoch in sich.

Der Abzweig führt also in die westeuropäische Kolonialgeschichte, was Castorf als große Apokalypse Baal Redux aufführt. Die Rückführung von Brechts Stück zu den Wurzeln von Rimbaud und Verlaine. Castorf mixt dazu die französischen Denker Jean-Paul Sartre, Frantz Fanon und spielt Jimi Hendrix‘ "Hey Joe" in französischer Coverversion ein. Eine ziemlich schräge Wiederbelebung durchaus im Sinne Brechts. Für nicht ganz so Cinephile könnte es hier allerdings etwas langweilig werden, denn die Sache zieht sich, wie bei Castorf nun mal üblich. Immer um Einiges voraus sind die Schauspieler beim Sprechen der Szenen dem Original, das hinter ihnen flimmert, dafür aber umso schöner in der darauf folgenden Pause nachhallt. Das hat irisierende Momente. Es verwischen Realität mit beginnendem Wahnsinn und Müdigkeit mit Drogenrausch. In Endlosschleife hört man: „Zwei Seelen wohnen in dir, eine die tötet und eine die liebt.“ Für Castorf der Missing Link zurück zum alles verschlingenden Menschenverbraucher Baal. Tier und Gott zugleich, der die Geier vom Himmel frisst, Frauen liebt, missbraucht und mordet. Baudelaires Albatros wird im Film rezitiert, Ekart trägt Schweinhälften, und im Liebesclinch der beiden Straßendichter säbeln sich die anderen Stücke aus Baals Hinterbacken.

Castorf findet seinen Baal also nicht in den dunklen Wäldern Deutschlands - wo es ihn ja durchaus gäbe - sondern im Dschungelwahnsinn des Vietnamkriegs. Und so geht es dann auch weiter. Die Schnapskneipen und Kabaretts sind GI-Clubs, es wird Cognac getrunken und eine der beiden Schwestern heißt Hong (Hong Mei). Sie beherrscht die bezaubernden Puccini-Arien aus der Madam Butterfly genauso gut wie die schrille Peking Operette. Und das ist natürlich auch insgesamt wieder ganz große Castorf-Oper. Zu "Riders on the Storm" von den Doors lümmelt man im und auf dem Helikopter. Die Rede kommt nun auf Algerien und die französische Untergrundarmee OAS. Nebenbei eskaliert der Streit um Sophie Dechant, und Ekart wird im Dauerloop gewürgt. Bevor man aber wegzudämmern droht, ertönt der Weckruf mit Rimbaud: „Komm, komm ohne Säumen, die Zeit, von der wir träumen!" Da fliegen Baal und seine Höllengemahlin schon über Paris. Der Wahnsinn des Terrors hat bekanntlich längst wieder den Ausgangspunkt der Kolonisierung der Welt erreicht.

Aber ein Castorf ist nicht zu Ende, bevor er zu Ende ist. Und am Ende ist der Volksbühnenchef auch noch lange nicht angekommen. Da wären nur noch 500 Seiten Fremdtext einzuarbeiten sowie ein Loblied auf Freund Claus zu singen und über alte Säcke, die in Rente geschickt werden sollen. Wie ungerecht die Welt doch ist. Ein paar Spitzen in Richtung Berlin-Mitte und spaßige Reminiszenzen an Brechts Episches Rauchtheater kann sich die Castorf-Crew auf der Bühne in Wilmersdorf nicht verkneifen. Die Frage, ob wir im Münchner Baal die Ahnung von einer Welt des gescheiterten bürgerlichen Humanismus bekommen haben, muss jeder für sich selbst beantworten. Hier wird kein Angebot zum Diskurs gemacht und sich nicht ironisch weggeduckt. Bei Frank Castorf gibt es inhaltlich und ästhetisch immer voll eins auf die Zwölf. Und wie in seinen nicht enden wollenden Celine-, Malaparte- oder Hanns-Henny-Jahn-Abenden wird er die Gesellschaft weiterhin schmerzvoll auf die Streckbank der Selbsterkenntnis zwingen. Ganz nach dem Motto Baals: „Geschichten, die man versteht, sind nur falsch erzählt.“ Zumindest da steckt ein Körnchen Weisheit drin.



Baal am Residenztheater München | (C) Thomas Aurin


* * *


Was gäbe es also sonst noch von der THEATERTREFFEN-Front zu berichten, wenn im Nachklang des gerade genossenen Überwältigungsfurors so mancher in den letzten zwei Wochen gewonnener Eindruck schon wieder etwas verblasst? Wir sollten in diesem Jahr nach Aussage der Leiterin des Theatertreffens verstärkt die großen gesellschaftspolitischen Probleme wie Krieg, Flucht und Traumata vorgesetzt bekommen. Diese explizit politischen Themen fanden sich aber nur in einigen der eingeladenen Inszenierung wirklich auf der Bühne wieder. Zu sehen waren da neben dem großen Castorf-Baal vor allem die Verhandlung traumatischer Erlebnisse aus dem Balkankrieg in Common Ground vom Maxim Gorki Theater, Vergangenheitsbewältigung in der Wiener unverheirateten oder, ebenfalls aus Wien, die westliche Welt in der Lächerlichen Finsternis kolonialer Verstrickung. Echte Flüchtlinge stellte Nicolas Stemann in seiner Jelinek-Inszenierung Die Schutzbefohlenen auf die Bühne und entfachte dadurch eine kontroverse Diskussion über Rassismus und die Hoheit der Darstellung im deutschsprachigen Theater.

Was sonst noch vermisst wurde? Man suchte die deutschsprachige Theaterprovinz oder gar die Freie Szene vergeblich in Berlin. Ein Umstand, der der sogenannten Leistungsschau im Vorfeld bereits die Kritik einbrachte, eine elitäre Veranstaltung zu sein. Was Juror Til Briegleb damit konterte, es lohne sich nicht in die Provinz zu fahren, da den dortigen Theatern eh das nötige Potential fehlen würde. Ziemlich elitär also auch seine Sicht der Dinge, der man eigentlich nur widersprechen kann. Resultat dessen dann je zwei Einladungen für Berlin, Hamburg, München und Wien. Jeweils einmal waren Stuttgart und Hannover vertreten. Ziemlich schwer zu glauben, dass abseits der etablierten Kulturballungsräume nicht ebenso Bemerkenswertes zu entdecken wäre.

Neben Klassikern wie Ibsen, Brecht und Beckett konnte beim Theatertreffen 2015 wieder verstärkt der moderne oder postmoderne Autor gesichtet werden. Was auch für junge Regietalente und neue Zugriffe auf theaterfremde Texte zutraf. Trotz dreier Wiederholungstäter aus dem letzten Jahr und einiger erwartbarer Dauergäste überraschten auch einige Newcomer. So etwa Thom Luz, der Judith Schalanskys Nichtreiseführer Atlas der abgelegenen Inseln für das Schauspiel Hannover in ein Treppenhaus verfrachtete oder Christopher Rüping, der mit dem Dogma-Klassiker Das Fest in bemerkenswert leichter Regiehandschrift das schwere Thema Kindesmissbrauch auf die Bühne brachte. Das alles wurde natürlich nur möglich gemacht durch wiederrum großartig aufspielende DarstellerInnen, die in durchweg allen Inszenierungen begeistern konnten. Die großen Probleme wurden angepackt, aber nicht immer gelöst. Theater will aber wieder Anstoßpunkt und Vermittler des gesellschaftlichen Diskurses sein. Da kann man mit dem guten alten Brecht nur konstatieren: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Bis er im nächsten Jahr wieder aufgeht. The same procedure as every year.

Stefan Bock - 20. Mai 2015
ID 8652
BAAL (Haus der Berliner Festspiele, 17.05.2015)
Regie: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Denic
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Licht: Gerrit Jurda
Live-Kamera: Marius Winterstein + Jaromir Zezula
Video: Stefan Muhle
Dramaturgie: Angela Obst
Besetzung:
Baal ... Aurel Manthei
Ekart ... Franz Pätzold
Sophie ... Andrea Wenzl
Die ältere Schwester ... Katharina Pichler
Die jüngere Schwester ... Hong Mei
Gourgou ... Jürgen Stössinger
Watzmann ... Götz Argus
Isabelle, die Höllengemahlin ... Bibiana Beglau
Premiere in München war am 15. Januar 2015
THEATERTREFFEN-Gastspiel

Weitere Infos siehe auch: http://www.theatertreffen.de


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de

THEATERTREFFEN



Siehe auch: Baal (gesehen in München - am 24.01.2015)



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