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Festival

Democracy in America

Romeo Castellucci bebildert, inspiriert durch das Werk von Alexis de Tocqueville, die Entstehung der amerikanischen Demokratie als Akt weißen, puritanischen Kolonialismus


Bewertung:    



Das 17. Festival für Internationale Neue Dramatik (F.I.N.D.) an der Berliner Schaubühne endet fast genauso, wie es begonnen hat, mit einer großen pathetischen Performance, die sich theoretisch an den politischen Vorbildern der Geschichte der Demokratie orientiert. Waren es bei Angelica Liddells Stück Toter Hund in der chemischen Reinigung: die Starken noch die aufklärerischen Vordenker der französischen Revolution, ist es beim italienischen Theatermacher Romeo Castellucci der französische Publizist und Politiker Alexis de Tocqueville (1805-1859), der den bildgewaltigen Skandalregisseur zu seiner Produktion Democracy in America inspiriert hat.

Der junge Jurist und Historiker Tocqueville reiste 1826 im Auftrag der französischen Regierung nach Nordamerika, um das Rechtssystem und den Strafvollzug in den Vereinigten Staaten von Amerika zu studieren. Wohl auch deshalb hören wir einmal in Castelluccis 135minütiger Inszenierung, die durch zwei Pausen in drei recht unterschiedliche Teile aufgespalten wird, auch einen texanischen Gefangenenchor schwarzer Zwangsarbeiter mit einem Traditional über das Steineklopfen. War der junge Tocqueville zwar einerseits für die Abschaffung der Sklaverei, so war er anderseits auch ein glühender Befürworter und Wegbereiter der Kolonisierung Algeriens, der Frank Castorf gerade seine Faust -Inszenierung gewidmet hat, ohne dabei allerdings näher auf Tocqueville einzugehen.

Auch Castellucci interessiert sich eher für die wissenschaftliche Untersuchung des aus adligem Elternhaus stammenden Franzosen zum Stand der Demokratie in den Vereinigten Staaten um 1830. Über die Demokratie in Amerika (in zwei Teilen 1835 und 1840 erschienen) heißt dann auch sein großes Werk, das auch heute noch viel an den Universitäten rezipiert wird. Allerdings quält Castellucci das Publikum nicht mit theoretischen Phrasen von der Gefahr der „Tyrannei der Mehrheit“, die Tocqueville in zentralistisch geprägten Regierungsformen sieht, und daher den in der amerikanischen Verfassung verankerten Föderalismus preist. Auch hält er sich nicht damit auf, Tocquevilles weise Voraussicht der Macht der nordamerikanischen Industriekapitäne als neue Aristokratie der Demokratie zu erwähnen. Es läuft dann doch auf eine Kolonialismuskritik hinaus.

Tocquevilles als entschiedener Gegner revolutionärer Umwälzungen ist auch später als kurzzeitiger französischer Außenminister eher dem politisch konservativen Lager zuzuordnen. Den Erfolg der amerikanischen Demokratie sieht er dann auch nicht vordergründig in der Gleichheit und Freiheit vor dem Gesetz, sondern vor allem in den Werten der aus Europa eingewanderten Puritaner, der „Idee der evangelikalen Gleichheit des Individuums“ vor Gott. In God we trust, wie es heute immer noch heißt.

*

Mit ausschließlich weiblichen Ensemblemitgliedern des Theaters Socìetas aus Cesena und einer jeweils regional aufgestellten Tanztruppe zeichnet Regisseur Romeo Castellucci nun in drei Teilen den zunächst doch recht weißen Weg der amerikanischen Demokratie - beginnend mit den puritanischen Kolonisten im Nordosten der USA um 1786 kurz nach dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg nach. Zunächst aber tritt das in lange, weiße Armeemäntel gekleidete Tanzensemble auf und stellt mit Buchstabenfahnen den Titel des Stücks immer wieder neu zusammen. Da wird dann aus Democracy in America schon mal Car Comedy in America oder Academy ironic Crame. Sprachspiele scheinen es dem Regisseur angetan zu haben. Im Weiteren wird auch noch das Phänomen der Glossolalie (Zungenrede) erklärt. Eine Gebetsform vor allem der amerikanischen Pfingstgemeinden, bei der ohne Kenntnis in einer fremden Sprache gesprochen wird, als Ausdruck der Gnade des Heiligen Geistes.

Lustiger und vor allem ironischer wird es allerdings nicht mehr an diesem Abend. Wir befinden uns nun bei einem puritanischen Siedlerpaar mit den sprechenden biblischen Namen Elisabeth und Nathanael, deren Acker unfruchtbar ist. Es entspinnt sich ein Dialog der beiden über Gottesfurcht und Aberglaube, Amerika als das gelobte Land und neue Israel, sowie das Gebot „Du sollst nicht stehlen“. Elisabeth vertraut nicht mehr dem Gottesversprechen und ergeht sich in Zweifeln und blasphemischen Gedanken. Sie hat ihr Kind für einen Pflug eingetauscht und Saat gestohlen. Die Gemeinschaft der Puritaner will sie dafür strafen. Castellucci lässt das nach der ersten Pause in einem schemenhaften sakralen Traumtanz von rotgewandeten Puritanern hinter einem luziden Plastikvorhang spielen.

Nackt und blutrot eingeschmiert steht Elisabeth hinter dem Vorhang, während darauf amerikanische Geschichtsdaten von Schlachten, Deklarationen, Kompromissen und Kongressen geworfen werden. Es ist auch von der alttestamentarischen Geschichte von Abraham, der Gott seinen Sohn Isaac opfern soll, die Rede. Castellucci lässt ein bildgewaltiges Assoziationsgewitter auf die Zuschauer niederprasseln, das auch noch durch sich bewegende Lichtinstallationen und einen dräuenden Sound unterstützt wird.

Etwas ruhiger wird es im letzten Teil des Abends, bei dem zwei Schauspielerinnen in Silikon-Ganzkörperhüllen zwei indianische Ureinwohner spielen, die beim Erlernen englischer Worte über die Sprache der weißen Pflanzer sinnieren. „Ihre Worte bezeichnen nicht unsere Dinge.“ heißt es da, oder auch: „Es sind die Worte der Dinge, die sie sich nehmen wollen.“ Und das ist vor allem das Land, das die Native Americans nicht bebauen, da sie sich nur von der Jagd ernähren. Castellucci spielt hier auf Tocquevilles kolonialistische These an, dass man sich nur durch Landwirtschaft den Boden aneignen könne und somit die Indianer ihn nicht besaßen. „Sie jagen mit Worten.“ ist die bezeichnende Erkenntnis der beiden, die am Ende ihre Silikonhüllen ablegen und leer über eine Stange hängen. Zumindest dieser letzte Teil vermag somit inhaltlich in seiner recht einfachen Klarheit zu überzeugen.



Democracy in America in der Schaubühnr am Lehniner Platz | Foto (C) Luca del Pia

Stefan Bock, 11. April 2017
ID 9963
DEMOCRACY IN AMERICA (Schaubühne am Lehniner Platz, 09.04.2017)
Regie, Bühne, Licht, Kostüme: Romeo Castellucci
Text: Claudia Castellucci
Musik: Scott Gibbons
Korrepition: Evelin Facchini
Choreographie: inspiriert von Folkloretraditionen aus Albanien, Botswana, England, Ungarn, Sardinien
Mit: Olivia Corsini, Giulia Perelli, Gloria Dorliguzzo, Evelin Facchini, Stefania Tansini und Sofi a Danai Vorvila
Koproduktion im Rahmen von FIND 2017 an der Schaubühne am Lehniner Platz
Dauer: ca. 135 Minuten
Premiere zu FIND 2017 war am 9. April d.J.
Produktion: Socìetas - Cesena


Weitere Infos siehe auch: http://www.schaubuehne.de


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de

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