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nachDRUCK # 6

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Neue Stücke

Fremdenfeindlich-

keit und Flücht-

linge + NSU

ATT-Gastspiele aus Halle und Dresden


Zwei eng miteinander verbundene Themen durchziehen in diesem Jahr die Spielpläne der deutschsprachigen Theater: Fremdenfeindlichkeit und die Problematik der Flüchtlinge in Europa sowie die rechtsgerichtete Terrorzelle des NSU, deren einziger Überlebenden Beate Zschäpe gerade in München der Prozess gemacht wird. Bereits beim zurückliegenden Berliner Theatertreffen im Mai zeigte Nikolas Stemann seine Hamburger Version von Elfriede Jelineks Flüchtlingsdrama Die Schutzbefohlenen. Das Stück wird in der Interpretation des Wiener Burgtheaters (Regie: Michael Thalheimer) zu den Autorentheatertagen in die Hauptstadt kommen. Ebenso zu sehen war bereits die Münchner Uraufführungs-Inszenierung von Jelineks NSU-Stück Das schweigende Mädchen (Regie: Johan Simons). Und was die Jury des Theatertreffens demnach nicht getan hatte, holen daher die Macher der diesjährigen Autorentheatertage nach: den Blick (auch) in die deutsche Theaterprovinz, wo - neben München, Wien, Hamburg oder Köln -ebenso aktuell-politisches Theater zu besagten Themen abgehandelt wird; nachstehend gleich zwei Beispiele...

* * *

Wir sind keine Barbaren! (Neues Theater Halle)

Bewertung:    

Kein Unbekannter bei den Autorentheatertagen ist Autor Philipp Löhle, dessen Stücke nach Berlin, Hamburg und Mannheim nun auch in Dresden oder Halle/Saale aufgeführt werden. Und hier v.a. das 2014 in Bern uraufgeführte Stück Wir sind keine Barbaren!, das Löhle im Zuge der im letzten Jahr durchgeführten Masseneinwanderungsinitiative für die Abschottung der Schweiz gegen vermehrte Zuwanderung aus dem Ausland geschrieben hat. Durch die Pegida-Bewegung in Deutschland hat es unerwartet an Aktualität gewonnen. In der Inszenierung von Ronny Jakubaschk vom Neuen Theater Halle steht das Volk nun als „Heimatchor“ der Überlegenen und Abwehrer alles Fremden in der Box des DT und skandiert: „Hier sind wir... kein Platz mehr.“

Als das heimeliche Klischee des deutschen Kleinbürgers schlechthin hat Annegret Riediger eine vergoldete Sperrholzschrankwand auf die Bühne gebaut. Davor dann zwei benachbarte Paare, die sich gerade erst bei einer etwas verkrampften Cocktailparty kennengelernt haben. Barbara (Stella Hilb), Paul (Alexander Gamnitzer), Linda (Sonja Isemer) und Mario (Matthias Walter) sind typische Vertreter des mittelständigen Städtebewohners, der sich gesund und vegan ernährt, zum Yoga geht, neben Sex und Sport aber auch ganz technikaffin auf die modernste Unterhaltungselektronik abfährt.

Als Prüfung der Toleranz gegenüber dem Eindringen in ihren Hort der häuslichen Biederkeit schickt Autor Löhle einen klatschnassen Fremden aus dem Regen vorbei, der nachts an die Türen der beiden Paare klopft und um Einlass bittet. Von Linda und Mario zunächst abgewiesen, findet dieser Eindringling, von dem nur geredet wird, der aber selbst nicht auftritt, schließlich bei Barbara und Paul Aufnahme. Nun spult sich mal auf der einen, dann wieder auf der anderen Seite der Schrankwand (es wechselt dabei nur das Paarfoto an der Wand) ein fröhlicher bis heftiger Schlagabtausch der Für- und Widerargumente ab. Man tauscht Vorurteile aus und ergeht sich in gängigen Rassismen gegenüber dem Flüchtling Bobo oder Klint, vermutlich aus Afrika oder anderswoher. So genau kann man das ja nicht wissen, weil man ihn nicht versteht. Immer wieder unterbrochen wird die Handlung durch den Chor, in dem die Paare in Aussehen und Kleidung völlig aufgehen.

Es bilden sich Fronten und Allianzen, mal zwischen den Männern, dann wieder zwischen den Frauen. Während sich bei Linda ein merkwürdiges Helfersyndrom herausbildet und sie den Fremden zur großen Metapher für die ganze Welt erklärt, verzweifelt der sich vernachlässigt fühlende Paul. Linda hegt sexuelle Phantasien, und Mario fängt schließlich an, einen Schutzraum im Schlafzimmer zu bauen, den er mit der Angst vor den Afrikanern begründet, die nun in Scharen daher kämen, wo es das Wissen gibt, was ihnen fehlt. Der moderne Germane als früherer Barbar bereitet sich auf „die Welle“ neuer fremdartiger Völker vor, die ihn nun sozusagen als Rache für Pizarro überrollen.

Das ist - wie immer bei Löhle - etwas nahe am Boulevard und wird von Jakubschk auch als flotte Konversationsfarce inszeniert. Ziemlich schwarz-humorig und böse endet die Geschichte aber spätestens, wenn nach dem Mord an Barbara mittels Pauls geliebtem Riesenflachbildschirmfernseher die Schuldfrage sofort eindeutig und keine weitere Erklärung mehr nötig ist. Barbaras herbeigeeilte Schwester Anna, die berechtigte Zweifel am Tathergang hegt, wird rüde niedergebrüllt und vom aufmarschierenden Heimatchor ausgeschlossen. „Wir sind das Volk... Wir müssen uns schützen.“ Und so weihen Mario und Linda dann auch sogleich den fertiggestellten Schutzraum ein.




mein deutsches deutsches land (Staatsschauspiel Dresden)

Bewertung:    

Auch Stücke von Thomas Freyer sind schon in Berlin aufgeführt worden. Eine lange künstlerische Verbindung besteht aber seit ihrer Weimarer Zeit zum Regisseur Tilmann Köhler. Nach Das halbe Meer ist mein deutsches deutsches land die zweite Zusammenarbeit der Beiden am Staatsschauspiel Dresden. Freyer hat für das Stück, das sich lose an die Geschichte der drei bekannten NSU-Aktivsten anlehnt, viele Akten und Bücher über den Fall sowie Protokolle von Untersuchungsausschüssen gelesen. Herausgekommen ist eine etwas mühsam zusammengepuzzelte Fiktion, die das Versagen der Ermittlungsbehörden als einen Politthriller um Korruption und Vertuschung durch den Verfassungsschutz und die Einflussnahme politischer Verantwortungsträger erzählt. Leider bewegen sich Text und Inszenierung dabei über weite Strecken auf dem Niveau eines flauen Fernsehkrimis.

Damit man als Zuschauer nicht den Faden zwischen den drei abwechselnd ablaufenden, zeitlich aber versetzten Spielebenen verliert, die gestern, heute und morgen miteinander verschränken sollen, werden Personen und Handlungsorte der einzelnen Szenen auf Bildschirmen angezeigt. Dazu dreht sich unaufhörlich eine Plattform mit großer Sperrholzwand, an die Karten und Ermittlungsdetails gepinnt oder große Videoprojektionen von einer Livekamera geworfen werden. Als nette Regieidee machen die Darsteller, die gerade nicht spielen, am Rand der Bühne Szenengeräusche. Eine nervtötende Umbaupausenmusik vermischt die deutsche Nationalhymne immer mal wieder mit orientalischen Klängen. Das ist dann aber fast schon der einzige Verweis auf die eigentlichen Opfer der rechten Terrorzelle, deren Angehörige gern die Hintergründe der Taten erfahren würden, aber selbst nur Verdächtigungen ausgesetzt sind.

Freyer interessiert sich zwar auch für die Drahtzieher hinter dem Geschehen, verortet alles Übel aber nur in den Chefetagen der Ämter und bei Parteifunktionären, die ihre Ministerämter missbrauchen, um aus Angst um ihre Wahlchancen die Morde an ausländischen Studenten nicht als rechtsradikale Terrorserie verfolgen lassen wollen. Hier wäscht eine Hand die andere. Dagegen ermitteln ein ehrlicher Polizeikommissar (Thomas Braungardt) und seine Assistentin (Ina Piontek) auf verlorenem Posten.

Die Motive der drei in die Rechtsradikalität abgerutschten Jugendlichen werden bei Sarah (Lea Ruckpaul) mit der Opposition gegen ihre gutmenschelnden, kleinbürgerlichen Erzeuger, bei Dominik (Jonas Friedrich Leonhardi) mit einer hyperreligiösen Übermutter und beim Schulschläger Florian (Kilian Land) mit einem verwahrlosten Elternhaus und Neonazibruder erklärt. Das ist recht simpel, weil man so natürlich auch ziemlich alles begründen kann. Jedenfalls verschwindet die Gang irgendwann erwartungsgemäß im Untergrund, kommt an eine mysteriös verschwundene Polizeiwaffe und beginnt die Morde zu planen. Die Verbindung zum rechten Heimatschutz gegen Islamisierung erfolgt über einen tumben Skinhead mit Baseballschläger.

Dazwischen laufen die Mordermittlungen, die von Seiten des Verfassungsschutzes behindert werden, der seine Anweisungen vom Innenminister persönlich bekommt. Kilian Land (erst Florian) verwandelt sich als besonderer Coup schließlich vor aller Augen in Minister Nöde. Ein biederer, karrierebeflissener Verfassungsschutzbeamter (Matthias Lucky) zieht die Fäden und verpasst den zwei bei einem Autounfall überlebenden Tätern eine neue Identität. Der Chef von Kommissar Wolff wird nach Brüssel versetzt, eine nachbohrende Journalistin bestochen. Die Ermittlungen verlaufen ruhig im Sand, und schließlich ist der Weg für den Minister und seinen Helfer ganz nach oben frei. In der dritten Ebene rechtfertigt man sich etwas später dann süffisant gegenüber den Fragen ergebnisloser parlamentarischer Untersuchungsausschüsse. Die Akten sind ja eh bereits geschreddert.

Es liegt sicher nicht an dem doch recht guten Spiel der immer wieder schnell zwischen den Rollen switchenden Schauspieler, das man irgendwann das Interesse an dem wie ein geöltes Uhrwerk ablaufenden Plot verliert. Auch kann man sich die Verwicklungen zwischen den staatlichen Ämtern und Regierungsebenen gut als parteipolitisches Gerangel vorstellen. Der tatsächlichen Aufklärung rechtsradikaler Gewalttaten als gesamtgesellschaftliches Phänomen dient das aber wenig. Da wäre ein rein dokumentarischer Ansatz doch die ehrlichere Variante der Herangehensweise gewesen. Aber auch das kommt ja noch bei den ATT. Man darf also weiter gespannt sein.

Stefan Bock - 19. Juni 2015
ID 8711
WIR SIND KEINE BARBAREN (Box + Bar, 16.06.2015)
Regie: Ronny Jakubaschk
Bühne und Kostüme: Annegret Riediger
Dramaturgie: Henriette Hörnigk
Musik Bastian Bandt
Besetzung:
Barbara / Anna: Stella Hilb
Linda: Sonja Isemer
Paul: Alexander Gamnitzer
Mario Matthias Walter
Chor: Kerstin König, Philipp Noack, Louise Nowitzki, Enrico Petters, Max Radestock, Maria Radomski, Andreas Range und Barbara Zinn
Uraufführung im Konzert Theater Bern war am 8. Februar 2014
Gastspiel des Neuen Theaters Halle
AUTORENTHEATERTAGE BERLIN 2015



MEIN DEUTSCHES DEUTSCHES LAND (Kammerspiele, 17.06.2015)
Regie: Tilmann Köhler
Bühne: Karoly Risz
Kostüm: Barbara Drosihn
Licht: Andreas Barkleit
Dramaturgie: Robert Koall.
Mit: Lea Ruckpaul, Ina Piontek, Thomas Braungardt, Kilian Land, Jonas Friedrich Leonhardi und Matthias Luckey
Uraufführung war am 4. Dezember 2014
Gastspiel des Staatsschauspiels Dresden
AUTORENTHEATERTAGE BERLIN 2015


Weitere Infos siehe auch: http://www.deutschestheater.de/


Post an Stefan Bock

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