Fallsüchte
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jeux von Toula Limnaios – in der HALLE Tanzbühne Berlin | Foto (C) Giacomo Corvaia
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Bewertung:
jeux (dt.: “Spiele”) heißt das neue Tanzstück von Toula Limnaios, das jetzt in der HALLE Tanzbühne Berlin mit den Tänzerinnen und Tänzern Rafael Abreu, Daniel Afonso, Francesca Bedin, Félix Deepen, Karolina Kardasz, Amandine Lamouroux und Alessia Vinotto zur Uraufführung kam.
Ralf R. Ollertz, Limnaios’ Kompagnon der in Brüssel gegründeten und seit 1997 in Berlin ansässigen cie. toula limnaios, komponierte bzw. mischte die Musik (den elektronischen Sound) zum Stück - so wie immer oder meistens, wenn ein neues Projekt der beiden ansteht. Dieses Mal zitierte er darüber hinaus Händels populäres Largo “Ombra mai fu” aus dessen Oper Serse.
In der von beiden kommunizierten Vorankündigung ihres neuen Gemeinschaftsprojekts wird dasselbige als “poetische Reflexion über Unschuld und Vergessen, über den Begriff der Zeit und über das Kindsein” erklärt, und weiter heißt es:
“Inspiriert von philosophischen Gedanken und Anregungen, die von Platon über Nietzsche bis hin zu Bergson reichen, entfaltet sich die neue Inszenierung in einer Reihe von 'tableaux vivants', einer ‘erzählten Zeit’, in der sich die Bilder verflechten, verschmelzen und auflösen. Die Interpret*innen lassen sich auf ein verwirrendes Puzzle ein, auf ein Spiel, das sie in formlos fließende Zustände versetzt.
Ist das Leben ein endloser Kreislauf? Hält nicht der Augenblick auch die Möglichkeit eines Neuanfangs bereit? Oder ist das Leben ein bewegtes Bild der unbewegten Ewigkeit – eine Wahrnehmung der Zeit, die nur ein Spiegelbild einer ewigen Ordnung wäre? Wie nehmen wir Zeit wahr, was ist zeitlos, und was bedeutet 'Dauer' angesichts einer sich stetig verändernden Welt und der Endlichkeit menschlichen Daseins? Könnte es eine unsichtbare Kontinuität in den Überlagerungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geben, auch wenn Veränderung die einzige Konstante zu sein scheint?
Zeit vergeht, aber sie dauert auch an: ein Paradox…
Im Dickicht dieser Gedanken und Fragen ist jeux eine fantasievolle Versuchsanordnung, um etwas hinter die Konstruktionen und Dekonstruktionen menschlichen Daseins zu schauen, das Ungleichzeitige im Gleichzeitigen zu hinterfragen.
Und es ist ein Plädoyer für sinnstiftende Kreativität, für das Schöpferische, das Spielerische und die positiven Möglichkeiten des Menschen – neben der Dringlichkeit des Lebens und dem Druck des Alltags – die Welt auch verändern zu können … Und es beginnt im Spielen.”
(Quelle: toula.de)
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Gut zu wissen [s.o.] - aber eigentlich erscheinen derartige, und in obigem Fall doch ziemlich ausufernde Erklärtexte zu einem Stück verdächtig, denn es hieße, falls man sie dann nicht vorausgelesen und sonach verstanden hätte, dass man - falls man trotz dieser Lektüre das entsprechend nachfolgende Stück am Ende doch dann nicht so recht verstanden haben würde - irgendwie "zu doof" hierfür sein könnte oder wie auch immer.
Kurzum: Den Text zum Stück hatte ich schlussendlich noch weniger verstanden als das Stück an sich.
Allein, es fängt doch sehr bedeutungsvoll und vielversprechend an, wenn Francesca Bedin in einem streng geschnittnen Höhere-Töchter-Kleidchen mit Brüssler-Spitzen-Applikation (Kostüme: Toula Limnaios und Kristina Weiß-Busch) solo auftritt und etwaige Versehrtheitsgesten demonstriert; ihr Gesicht - und die Gesichter aller nachfolgend Auftretenden - ist/ sind dann erstmal eine Weile lang mit dem nur teiltransparenten Stoff eines Nylonstrumpfes verdeckt. Und ich versuche herauszukriegen, was womöglich die tiefere Ursache ihrer physisch bedingten Versehrtheit oder inneren Verstörung ist: eine Gewalterfahrung, ein sexueller Missbrauch?
In einer Art fahrbarem Käfig verweilt sie bzw. verweilen ihre tanzenden Mitstreiterinnen und Mitstreiter ab und zu, je nach persönlichem also privatem Geschichtserfahren - und es ist wiederum, was mich betrifft, kein Deut' daraus zu schließen, worum es den vier Frauen und drei Männern geht, was sie mir damit sagen wollen.
Am größten ist meine Irritation ab dem Punkt, als Félix Deepen völlig unerwartet zum Mikro und einem Taschenbuch greift, um hieraus auf Englisch vorzulesen; ich identifizierte die Publikation, die auf dem schmalen Mauersims der HALLE abgelegt worden war, nach dem Ende des ca. einstündigen Tanzstücks als La vie extravagante de Balthazar [dt.: "Das extravagante Leben Balthasars"] von Maurice Leblanc, einen französischsprachigen Fortsetzungsroman, den ich bis da nicht kannte.
Und immer wieder lassen sich die Akteurinnen und Akteure der Reihe nach fallen, während aus ihrer Reihe der eine oder die andere ein Solo oder ein Pas de deux absolvieren.
Enthusiastische Beifallsbekundungen des zahlreich erschienenen Premierenpublikums.
Die meinem schwachen oder vielleicht auch müden Geist geschuldete Ratlosigkeit ist/ war gewiss rein singulärer Natur.
Sympathische Truppe.
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jeux mit der Cie. Toula Limnaios | Foto (C) Giacomo Corvaia
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Andre Sokolowski – 10. Mai 2025 ID 15258
jeux (HALLE Tanzbühne Berlin, 07.05.2025)
Konzept, Choreographie und Bühne: Toula Limnaios
Musik: Ralf R. Ollertz
Kostüme: Toula Limnaios und Kristina Weiß-Busch
Assistenz: Alice Gaspari
Technische Leitung/ Lichtdesign: Felix Grimm
Licht/ Bühnentechnik: Domenik Engemann
Mit: Rafael Abreu, Daniel Afonso, Francesca Bedin, Félix Deepen, Karolina Kardasz, Amandine Lamouroux und Alessia Vinotto
Premiere war am 7. Mai 2025.
Weitere Termine: 08.-10., 14.-17., 21.-24.05.2025
Eine Produktion von cie. toula limnaios
Weitere Infos siehe auch: https://toula.de
https://www.andre-sokolowski.de
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