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Böhm mit Nikolaus Habjan - am DT Berlin | Foto (C) Thomas Aurin
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Bewertung:
Mein Lieblingsorchester war und ist die Staatskapelle Dresden, als Heranwachsender "entdeckte" ich sie (und mit ihr die klassische Musik, nachdem ich als Fünfzehnjähriger Klavier zu lernen und zu spielen begann) bei zig Live-Konzerten im schönen Elbflorenz, zumeist im dortigen Kulturpalast, aber auch in der damaligen Ausweichstätte der erst 1985 wiedereröffneten Semperoper, die im heutigen Schauspielhaus gegenüber dem Dresdner Zwinger residierte. Damals wusste ich: Karl Böhm (1894-1981) war einer ihrer Chefdirigenten; 1934 bis 1943 stand er ihr als GMD der Sächsischen Staatsoper vor und besorgte dort z.B. die Uraufführungen von Strauss' Die schweigsame Frau (1935) oder Daphne (1938). Er blieb ihr künstlerisch und wahrscheinlich auch menschlich bis zum Ende seines Lebens verbunden; 1961 nahm er mit ihr Strauss' Elektra auf Platte auf, es folgten ab Mitte der Siebziger weitere Produktionen mit Beethovens Fidelio oder Mozarts Entführung, Idomeneo und Titus. Am 12. Januar 1979 (34 Jahre nach der Totalzerstörung Dresdens durch die Alliierten) kam es im Kulturpalast am Altmarkt zu dem legendären ersten und letzten Live-Auftritt Karl Böhms bei "seinem" ehemaligen Orchester; die Große C-Dur-Sinfonie von Schubert lag da auf dem Pult - ich wollte vor Ort sein und das miterleben; keine Chance, Eintrittskarten waren Monate zuvor schon ausverkauft.
Und alles das, was ich als damaliger DDR-Jüngling nicht über Böhm gewusst haben sollte oder wollte, wurde mir jetzt "punktuell" in einer fast zweistündigen Ein-Mann-Performance des österreichischen und weit über seine Heimatgrenzen hinaus bekannten und berühmten Puppenspielers und Puppenbauers Nikolaus Habjan vermittelt - sie fußt auf einer Textvorlage von Paulus Hochgatterer und wurde im vorigen Jahr (als Übernahme des Schauspielhauses Graz) in das Repertoire des Deutschen Theaters Berlin aufgenommen; gestern Abend sah ich sie und hörte, was ich bisher noch nicht hörte...
"Dirigenten sind faszinierende Menschen: Musikalisch von höchster Sensibilität, gebieten sie als gottähnliche Alleinherrscher über riesige Klangkörper. Sie müssen sowohl Empfindsamkeit als auch Führungsstärke mitbringen und sind bisweilen tyrannische, selbstherrliche Despoten, deren Seelenregungen oder Fingerzeige eine Hundertschaft in Bewegung zu setzen vermögen. So wie Karl Böhm, einer der größten Dirigenten des 20. Jahrhunderts. Zwischen Geburt und Begräbnis liegen fast 87 Lebensjahre, die von einem tiefen Zwiespalt geprägt sind: Einerseits war Böhm ein großer Künstler, andererseits war er ein Mensch, der sich mit dem Nationalsozialismus gemein machte, um seine Karriere voranzutreiben.
Auf Fürsprache Hitlers wurde Böhm 1934 an die Semperoper in Dresden berufen, um Nachfolger des Dirigenten Fritz Busch zu werden, den das NS-Regime zum Rücktritt und zur Emigration genötigt hatte. 1943, mitten im Zweiten Weltkrieg, wurde Böhm Direktor der Wiener Staatsoper. 1945 entfernten ihn die alliierten Besatzungsbehörden wegen zu großer Nähe zum Nazi-Regime aus dem Amt des Direktors und belegten ihn mit einem Auftrittsverbot. Nach Ende der Besatzungszeit bis 1956 wurde er dann ein zweites Mal mit diesem Amt betraut."
(Quelle: deutschestheater.de)
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Bei der von Habjan menschengroß gebauten und geführten Puppe mit dem ziemlich eindeutigen Outfit des im Greisenalter befindlichen und im Rollstuhl sitzenden Böhms - eine fiktive Situation in der von Julius Theodor Semmelmann mit Grazer Wohnzimmer und umstehenden Notenpulten gänzlich zugebauten Vorbühne, die sich am Schluss des Stücks sehr weit nach hinten öffnet und eine letztendlich herunterkrachende und zerscherbende Gedenkbüste des Dirigenten demonstriert - soll es sich kurioserweise um einen gleichaltrigen Böhm-Fan handeln, dessen Persönlichkeit geradezu total in die seines historischen "Idols" übergegangen zu sein scheint und so eine Art gelebte Schizophrenie zum Ausdruck bringt; er wird von Habjan selbst (als osteuropäischer Pfleger) und einer weiteren menschengroßen Puppe (als kleine Schwester des Pflegers) rund um die Uhr betreut, befragt, beurkundet; geniale Stückidee!
Habjan bricht dann immer wieder aus der Grundkonstellation heraus, indem er - auch mit kleineren Puppen (als Fritz Busch, Elisabeth Schwarzkopf, Christa Ludwig, Walter Berry usw. usf.) - Böhms künstlerische Lebensstationen, v.a. zwischen Dresden und Wien, per Monolog, Dialog und historischen Musikaufnahmen sozusagen dokumentiert. Dabei wechselt seine Stimme "dialektisch" hin und her; der Wiener Schmäh, im Falle Böhms, kommt hierbei wohl am glaubwürdigsten also echtesten herüber; sowieso scheint seine musikhistorische Vorbildung allumfassend zu sein, ja und in puncto Dirigieren (siehe all die nachgestellten und -empfundenen Orchesterproben) kennt er sich halt auch vorzüglich aus.
Glaubwürdiger kann/ wird man nichts zu Böhms zwiespältiger Persönlichkeit und seiner Hochgenialität als Dirigent zum Besten geben können!!
Was ich auch bis da nicht wusste, dass der Böhm seinen "konkurrenten" Kollegen Sergiu Celibidache (1945-52 Furtwänglers Ad-interim-Nachfolger bei den Berliner Philharmonikern) wie die Pest gehasst haben soll; wahrscheinlich nicht nur deshalb, weil der Celi seiner Zeit weltweit als schönster aller Dirigenten galt.
Standing Ovations.
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Böhm mit Nikolaus Habjan - am DT Berlin | Foto (C) Thomas Aurin
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Andre Sokolowski - 13. Juli 2025 ID 15362
BÖHM (Deutsches Theater Berlin, 12.07.2025)
von Paulus Hochgatterer
Regie: Nikolaus Habjan
Regiemitarbeit: Martina Gredler
Puppendesign: Nikolaus Habjan
Puppenbau: Nikolaus Habjan und Marianne Meinl
Bühne: Julius Theodor Semmelmann
Kostüme: Cedric Mpaka
Licht: Robert Grauel
Dramaturgie: Karla Mäder und Elisabeth Geyer
Mit: Nikolaus Habjan
UA am Schauspielhaus Graz: 22. März 2018
Berliner-Premiere war am 21. Juni 2024.
Weitere Termine: 10.02./ 10., 17.04./ 14., 22.05.2026
Übernahme vom Schauspielhaus Graz
Weitere Infos siehe auch: https://www.deutschestheater.de
https://www.andre-sokolowski.de
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