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nachDRUCK # 6

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Rosinenpicken (552 / 553)

Jens Harzer!

Kristof Van Boven!

DIE WILDENTE und MACBETH in Hamburg

Bewertung:    



Über zwei extraordinäre Mimen (derentwegen ich meine Erkundungsreise in die Hansestadt am Wochenende hauptmotivisch unternahm) soll hier berichtet sein. Der eine ist seit 2019 Träger des Iffland-Rings, welcher dem "jeweils bedeutendsten und würdigsten Bühnenkünstler des deutschsprachigen Theaters" auf Lebenszeit (zumeist von seinem jeweiligen Vorgänger; in diesem Falle war das Bruno Ganz, der ihn von 1996 an weit über 23 Jahre trug) verliehen wird - Jens Harzer ist gemeint, ja und ich sah ihn (und auch Bruno Ganz) erstmals, weit vor der Ringverleihung, angelegentlich eines Konzertes der Berliner Philharmoniker, bei dem Claudio Abbado Byrons Manfred-Poem mit der es flankierenden "Begleitmusik" von Robert Schumann zelebrierte. Und den zweiten Extra-Mimen, Kristof Van Boven, erlebte ich erstmals 2011 live auf der Bühne, und zwar als Natascha Kampusch in Jelineks Winterreise, und das war dann schon verblüffend, denn bis Ende dieser Aufführung der Münchner Kammerspiele hätte ich es kaum für möglich halten wollen, dass dann unter der Natascha-Perücke nicht etwa ein Mädchen sondern ein Mann versteckt gewesen war. Das absolute Markenzeichen beider Schauspieler ist ihre unverwechselbare Stimme, woran man sie unter Hunderten - vorausgesetzt, man hätte sie dann wenigstens ein- oder zweimal live oder auf irgendeiner Hörbücher-Konserve vor-verinnerlicht, also akustisch - wiederzuerkennen und auch festzumachen glaubt. Ihr Timbre ist von einer unaufdringlich weichen und zuweilen (viel zu) leisen Art, wobei es, situativ bedingt, über die Stränge schlagen kann, und das gegebenenfalls ziemlich absolut. Bei dem Van Boven erfolgt so etwas meistens wie ein Blitz aus heiterm Himmel; plötzlich scheint er da aus sich einen ganz Anderen oder eine ganz Andere hervorzuzaubern, und diese (Vergleichs-)Figuren springen dann in ihrer schizophrenen Ausgelassenheit vom einen in das andre Ich, und diese sie vermittelnde Exzentrik tut dann schon, allein beim Zuhören, die eignen Sinne schärfen und elektrisieren.

* *

In den Ibsen-Stücken finden meistenfalls Familien-Zusammenbrüche statt; irgend so'n Außenanlass löst die jeweiligen Katastrophen aus, und (hast du's nicht gesehen) prallen die Gemüter dieser frei nach Lenin "kleinsten Zelle der Gesellschaft" unbarmherzig aufeinander. Friedrich Engels hatte diesen absehbaren Dauerstress im eigentlich ja unbeobachtbaren Großreich des Privaten so vorausgeweissagt:


"Die Einzelehe war ein großer geschichtlicher Fortschritt, aber zugleich eröffnet sie neben der Sklaverei und dem Privatreichtum jene bis heute dauernde Epoche, in der jeder Fortschritt zugleich ein relativer Rückschritt, in dem das Wohl und die Entwicklung der einen sich durchsetzt durch das Wehe und die Zurückdrängung der andern. Sie ist die Zellenform der zivilisierten Gesellschaft, an der wir schon die Natur der in dieser sich voll entfaltenden Gegensätze und Widersprüche studieren können.

Die alte verhältnismäßige Freiheit des Geschlechtsverkehrs verschwand keineswegs mit dem Sieg der Paarungs- oder selbst der Einzelehe."


(Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats)



Jens Harzer verkörpert also in der komplizierten Wildente-Inszenierung des isländischen Regiestars Thorleifur Örn Arnarssonden einen verlor'nen Sohn, der mit seiner ihn dominieren wollenden Business-Sister (Marina Galic) zurückkehrt und den Eltern (Merlin Sandmeyer & Catherine Seyfert) vorhält, dass sie - frei nach Ibsens Volksfeind - die Vergiftung der kurhäuslichen Heilquelle, womit sie mehr oder weniger ihr Geld verdienen, offiziell verheimlichen würden, obwohl ihr Sohn das schwarz auf weiß schon längst in einem fünfseitigen Bericht aufklärerisch zum Nachweis brachte; und zudem entlüftet er, ganz nebenbei, ein weiteres Geheimnis, dass dann nämlich seine junge Stiefschwester (Rose Thormeyer) die Folge einer außerehelichen Sexualabschweifung seiner Mutter, die von wem auch immer dieses KInd gezeugt bekam, gewesen war, ja und so tut der Vater a) das Kuckuckskind und b) die Frau auf immer und ewig verstoßen o.s.ä. Mehr Katastrophe in so einer Kleinstzelle geht wahrlich nicht. Und Harzer als der Außenstehendste von allen trägt das alles mit an sträflichem Stumpfsinn grenzender Gelassenheit und Ausdauer, so derart stoisch und weltabgehoben muss man erst mal spielen können.



Regisseurin Karin Henkel hat jetzt ihrem Macbeth-Titel-/ Hauptdarsteller ein paar hörenswerte Eingangs- sowie Folgemonologe, welche sie und ihr Kollege Roland Koberg (oder fußt das alles etwa auf die O-Text-Nachdichtung von Thomas Brasch? ich kenne dessen Macbeth-Text leider noch nicht) "nach William Shakespeare" beisteuerten, zum Auswendiglernen in das Script geschrieben oder schreiben lassen. Und Kristof Van Boven macht daraus eine schier atemberaubende Performance! Er & sein Macbeth inszenieren sich als die, die mit der ganzen schlachtbankmäßigen Mordsscheiße im Prinzip insofern "nur" zu tun gehabt hätten, als dass sie sie rein unterbewusstseinsmäßig absolvierten oder so. Ein 21köpfiger Alumnen-Chor (alles Mädchen im schulpflichtigen Alter) bringt dem Mordsherrscher so peu à peu seine verübten blutrünstigen Greueltaten in Erinnerung; zwei Gouvernanten (Angelika Richter & Kate Strong) agieren stellvertretend für die in Henkels Inszenierung de facto abwesende Lady Macbeth. Die historischen als wie Privatzusammenhänge dieser beispiellosen Schottenkönige-Geschichte wirken so, auf diese spielerische sowie sprachlich anspruchsvolle Weise, scheinbar noch plausibler als im ausufernden Shakespeare-Blankvers anno 1600, ja warum auch nicht? wenn es zudem grandios performt ist!

Bisher dachte ich, dass André Kaczmarczyk (in der von mir besuchten vorjährigen Düsseldorfer Inszenierung von Evgeny Titov) einer der untoppbarsten Macbeth-Darsteller neu'rer Zeiten wäre/ ist - das ist und bleibt er selbstverständlich auch; aber beim Kristof jetzt (im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg) kam/ kommt eine weitere Facette auffrischend hinzu, mit der die Schurkenrolle aller Schurkenrollen mimisch überzeugend aufgebrezelt werden kann und konnte.



Kristof van Boven als Macbeth am Deutschen Schauspielhaus Hamburg
Foto (C) Lalo Jodlbauer


Andre Sokolowski - 14. November 2022
ID 13911
DIE WILDENTE (Thalia Theater Hamburg, 12.11.2022)
oder Der Kampf um die Wahrheit / frei nach Henrik Ibsen

Regie: Thorleifur Örn Arnarsson
Bühne: Wolfgang Menardi
Kostüme: Andy Besuch
Dramaturgie: Susanne Meister
Musik: Gabriel Cazes
Licht: Jan Haas
Besetzung:
Helena Werle ... Marina Galic
Gregers Werle, ihr Bruder ... Jens Harzer
Der alte Ekdal ... Tilo Werner
Hjalmar Ekdal, sein Sohn ... Merlin Sandmeyer
Gina Ekdal, Hjalmars Frau ... Cathérine Seifert
Hedwig Ekdal, ihre Tochter ... Rosa Thormeyer
Live-Musik: Tom Gatza und Tilo Werner
Premiere war am 9. November 2021.
Weitere Termine: 17.11./ 16.12.2022

MACBETH (Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 12.11.2022)
Regie: Karin Henkel
Bühne: Katrin Brack
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Licht: Holger Stellwag
Musik: Friederike Bernhardt und Matti Gajek
Sprechchöre: Alexander Weise
Dramaturgie: Roland Koberg
Mit: Jan-Peter Kampwirth, Lars Rudolph, Angelika Richter, Kate Strong, Kristof Van Boven (als Macbeth) und Michael Weber sowie Felia Büttner, Felix Detje, Vikoria Dörfler, Frederick Ehm, Anoushka Eikmeier, Lila Gehrmann, Neele Glüh, Nele Harbeck, Delia Ihlau, Milla Kampwirth, Rosemarie Kampwirth, Luzie Lorenz, Mia Pfeifer, Ealanor Osei-Bonsu, Viktoria Pradko, Chanya Salkic, , Ilayda Sen, Merle Sorgenfrey, Mila Sorgenfrey, Henriette Speth, Emilia Sturm, Enna Zabel und Smilla Zimmermann
Premiere war am 5. Oktober 2022.
Weitere Termine: 09., 20., 27.12.2022


https://www.thalia-theater.de/

https://schauspielhaus.de/


https://www.andre-sokolowski.de

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