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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Apokalyptisch,

aber froh

(immerhin)

EXTINCTION von
Julien Gosselin


Victoria Quesnel und Denis Eyriey in EXTINCTION von Julien Gosselin - in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
Foto (C) Luna Zscharnt

Bewertung:    



Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz kehrte gestern Abend - anlässlich ihrer Spielzeiteröffnung - zu ihrer unter der Ägide von Frank Castorf urkreierten und jahrzehntelang alleinstellungsmerkmalig praktizierten Großform zurück; rein faktisch ließ sich das vorab schon festmachen wegen der Spieldauer von mindestens 5 Stunden und des spektakulären Bühnenbilds von Lisetta Buccellato, in welchem die zwei Kameramänner Gian Suhner & Richard Klemm mit ihren Geräten umherwuselten, um nicht minder spektakuläre Nahaufnahmen der zehn Schauspielerinnen und Schauspieler, die in den stilisierten Bühnenräumen (Schlafgemach, Salon mit Terrasse, Bad/Toilette) verschiedentlich agierten, live auf eine Leinwand oberhalb des Bühnenbilds zu liefern - fast so wie in alten Castorf-Zeiten, aber dieses Mal halt doch "ein bisschen anders".

EXTINCTION (der französische Ausdruck für Auslöschung, frei nach der 1986 erschienenen Wutprosa von Thomas Bernhard, einem über 500 Buchseiten umfassenden leseunfreundlichen Fließtext) heißt der Großabend, und ausgedacht hat ihn sich Julien Gosselin.

Wir kennen ihn v.a. aus Teil 1 seiner Geschichte der deutschen Literatur, mit der er uns und insbesondere die Bildungs(un)bürger im letzten Jahr - unter dem Titel STURM UND DRANG - so nervig malträtierte, und obwohl es eigentlich doch bloß um Goethes Werther oder Thomas Manns Lotte in Weimar resp. dessen Tod in Venedig ging, also um auch noch heutzutage durchaus lesbare Hochkulturprosa par exzcellence; der Cast des Abends versprach dann freilich allererste Schauspielgüte, wenn man sich im Nachhinein die Namen von Hendrik Arnst, Martin Wuttke, Benny Claessens, Rosa Lembeck, Marie Rosa Tietjen oder der französischen Gast-Aktrice Victoria Quesnel in Erinnerung ruft. Die drei Letztgenannten waren dann auch diesmal mit von der Partie und liefen zu schauspielerischen Hochformen auf.

Doch EXTINCTION war nunmehr nicht etwa als der Teil 2 von Gosselins Geschichte der deutschen Literatur angezeigt, sondern "lediglich" als gesondertes Projekt an sich, und zwar als französisch-deutsche Koproduktion, deren Premiere bereits am 2. Juni beim diesjährigen Theater-Festival in Montpellier stattfand und also jetzt erst in der koproduzierenden Berliner Volksbühne Station machte.


"In einer Kollision aus Party, Konzert, Live-Film und Sprechtheater durchleuchtet das dreiteilige Literaturstück von Julien Gosselin Nihilismus und Zerstörung und sucht darin nach den Spuren einer verschütteten Revolte und der Möglichkeit, das Projekt der Moderne neu zu erfinden. Es wendet sich dem in die Katastrophe schlitternden österreichisch-ungarischen Reich vor Ausbruch des ersten Weltkriegs zu. Die scheinbare Unbeschwertheit, die gesellschaftlichen Debatten und die unterschwelligen Konflikte, die Arthur Schnitzler zum Ausdruck bringt, machen schließlich Thomas Bernhards radikalem Hass und Desillusionierung Platz.

Julien Gosselin imaginiert die Apokalypse als radikale Vernichtung der westlichen Kunst und Zivilisation und wählt Wien als beispielhaften Ort im noch jungen zwanzigsten Jahrhundert, einer im Vergehen und Aufblühen begriffenen Kultur voller Widersprüche: Eine vergangene Gegenwart, die im Zeichen steht von Aristokratie, drohendem Untergang des Kaiserreichs, Bourgeoisie, Industrialisierung, in der Historie Freuds von Nervosität und Neurasthenie sowie künstlerischer Avantgarden, darunter Mahler, Schönberg, Anton von Webern, Alban Berg, Herrmann Bahr, Hugo von Hofmannsthal und schließlich Arthur Schnitzler. Die von Schnitzler beschriebene Wiener Gesellschaft zwischen Ignoranz, Individualismus, Liberalisierung und Demokratisierung, Kultiviertheit, Gewalt, Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus, bildet den Nährboden für Gosselins Adaption der Literatur."


(Quelle: volksbuehne.berlin)



*

Als rezitierbare Literaturvorlagen dienten sowohl Arthur Schnitzlers Theaterstück Die Komödie der Verführung, dessen Erzählungen Traumnovelle und Fräulein Else sowie dessen Boxeraufstand-Fragment als auch Hugo von Hofmannsthals Brief des Lord Chandos und zu guter Letzt die eingangs schon erwähnte Auslöschung von Thomas Bernhard - Rosa Lembeck wird sie als 1-stündigen und von Gosselin zusammengestutzten Monolog am Schluss des Abends vorgetragen haben; doch zu diesem Zeitpunkt war ich längst schon wieder auf der Rückfahrt vom Theater, und nicht etwa, weil es mich nicht zusätzlich interssiert hätte, wie alles schlussendlich gelaufen wäre, nein, allein meiner Verkehrsanbindung (Richtung Müggelsee im äußersten Südosten von Berlin) wegen.

Der dreiteilige Abend begann mit einem publikumswirksamen Happening aus "Bier für alle" und der akustischen Beigabe von immer lauter werdendem DJ-Gedröhne - aufgrund seiner gesundheitsschädigenden Lärmbelästigung sahen sich wohl nicht wenige genötigt, diesem Party-Treiben vorübergehend erst mal fern zu bleiben sprich: Die Gelegenheiten, außer haus die Interimszeit von knapp einer Stunde weitaus hörgeschützter zu verbingen, wurde tatkräftig genutzt.

Zentrales Highlight war der über zweieinhalbstündige Mittelteil, in dem der Gosselin die seiner Meinung nach vorzüglich ausschlachtbaren Schnitzler-Texte zu 'nem stimmigen und alles in allem gut funktionierenden Ganzen auseinander- und wieder zusammenschnitzelte. Herauskam quasi ein ganz neues Stück, in dem es unterschiedlich starke und, was ihre jeweiligen zwischenmenschlichen Ergebnissen anging, katastrophale Beziehungskisten nachzuempfinden und (für uns und mich als Publikum) voyeuristisch nachzuverfolgen galt. Dabei taten sich ungeheuerliche Abgründe auf, aber es wurde zwischendurch auch gut gegessen und nicht minder gut gevögelt, also alles das, was unser aller Leben - auch noch heute - diverst durchzupulsen vermag. Ja und man wollte nachgerade gar nicht festlegen, wer von den hochgrandiosen Großakteurinnen und Großakteuren - Rosa Lembeck trat ja erst, wie schon erwähnt, am Schluss des Abends in Aktion - dann eigentlich der/ die schauspielernd Beste war; ich nenne sie jetzt einfach mal der Reihe nach: Guillaume Bachelé (als Felkenir), Joseph Drouet (als Nemeth), Denis Eyriey (als Florestan), Carine Goron (als Albertine), Zarah Kofler (als Else), Victoria Quesnel (als Aurelie), Marie Rosa Tietjen (als ?), Maxence Vandevelde (als Nachtigall) und Max von Mechow (als ?)

Das apokalyptisch Fröhliche an sich erreichte - kurz nachdem sich alle, wie bei Lars von Trier in dessem Melancholia-Film, der kosmisch herannahenden Katastrophe durch immerwährendes Nach-oben-in-den-Himmel-Gucken voll bewusst wurden - seinen völlig abgefahrenen Höhepunkt, als sich die versammelte Mannschaft Jahrzehnte später bei einem stimmungsmäßig ausufernden Dirndl- und Lederhosengeburtstag zusammenfand und einen aus ihrer Runde zur Veropferung bestimmte, worauf dann die Goron (als die einstmalige Albertine) mit 'nem Riesenbeil den Eyriey (als den einstmaligen Florestan) zerhacken tat und sie und alle andern Mitfeiernden theaterblutbesudelt-fröhlich übrig blieben und das Alles als Privat-Splatter auf ihre Handys abspeicherten... Und das machte schon, auf jeden Fall für mich, den apocalyptisch-fröhlichsten Sinn dieses doch ziemlich strapaziösen Großtheaters, und allein für diese metaphorische Idee: 5 K.



Max von Mechow, Zarah Kofler und Marie Rosa Tietjen (v.l.n.r.) in EXTINCTION von Julien Gosselin - in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz | Foto (C) Luna Zscharnt

Andre Sokolowski - 8. September 2023
ID 14378
EXTINCTION (Volksbühne Berlin, 07.09.2023)
von Julien Gosselin - mit Texten von Thomas Bernhard, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal

Adaption & Regie: Julien Gosselin
Bühne: Lisetta Buccellato
Kostüme: Caroline Tavernier
Musik: Guillaume Bachelé und Maxence Vandevelde
Sounddesign: Julien Feryn
Videodesign: Jérémie Bernaert und Pïerre Martin Oriol
Videoschnitt: David Dubost, Phillipe Suss und Felicitas Sonvilla
Videoscript: Elsa Revcotevschi und Julia Gostynski
Kamera: Richard Klemm, Gian Suhner, Jérémie Bernaert und Baudouin Rencurel
Licht: Nicolas Joubert und Kevin Sock
Dramaturgie: Eddy d´Aranjo und Johanna Höhmann
Mit: Guillaume Bachelé, Joseph Drouet, Denis Eyriey, Carine Goron, Zarah Kofler, Rosa Lembeck, Victoria Quesnel, Marie Rosa Tietjen, Maxence Vandevelde und Max von Mechow
UA beim Theater-Festival in Montpellier: 2. Juni 2023
Berliner Premiere war am 7. September 2023.
Weitere (Berliner) Termine: 09., 10., 14.09./ 07., 08., 20., 21.10.2023
Koproduktion der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz mit Si vous pouviez lécher mon cœur


Weitere Infos siehe auch: https://www.volksbuehne.berlin/


https://www.andre-sokolowski.de

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