Reden von der
Krankheit
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Die Welt im Rücken von Thomas Melle - am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Julian Baumann
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Bewertung:
Zwei Informationen gehen dem Theaterbesuch voraus: Lucia Bihler zählt in diesen Tagen zu den meisterwähnten und -gepriesenen Regisseurinnen der mittleren Generation. Und Thomas Melles Roman Die Welt im Rücken, dessen „Fortsetzung“ mittlerweile erschienen ist, wandert von Bühne zu Bühne, seit Jan Bosse ihn überaus erfolgreich mit Joachim Meyerhoff im Alleingang auf die Bühne des Burgtheaters gehievt hat. In der Stuttgarter Zeitung schrieb Roland Müller in einem Vorbericht ebenso wohltuend respektlos wie zutreffend, „dass es im hiesigen Ensemble eben auch keinen Meyerhoff gibt". Man musste sich also darauf einstellen, dass sich ein Vergleich mit dem Wiener Vorgänger verbietet. Und wurde so nebenbei daran erinnert, dass die Qualität von Theater auch heute noch nicht allein von der Regie abhängt, sondern zumindest ebenso sehr von den Darstellern. Die ganz Großen sind unter ihnen so selten wie überragende Autoren, Regisseure, Bühnenbildner oder Intendanten. (Das fällt uns ein anlässlich der Autobiografie von Klaus Zehelein, die übermorgen in die Buchläden kommt.)
Einem Vergleich mit Joachim Meyerhoff hat Lucia Bihler schon vorgebeugt, indem sie die Rolle des Thomas Melle – hört, hört! – mit einer Frau, mit Paulina Alpen als Gast besetzte. Ihr ordnet sie sechs lange Zeit stumme Doppelgänger beiderlei Geschlechts zu. Nun freut man sich über jeden Gast. Aber man darf sich auch fragen, ob Roland Müllers Bemerkung nicht eine zusätzliche Dimension erhält, wenn das Theater den Eindruck erweckt, es könne seine Angebote nicht aus dem eigenen nicht ganz kleinen Ensemble besetzen. Eben erst hat es die Hauptrolle in Eine runde Sache einem Gast überlassen. Und jetzt Paulina Alpen, die schon mehrmals mit Lucia Bihler gearbeitet hat. Ob es eine gute Idee ist, gastierenden Regisseuren zu erlauben, dass sie ihre Lieblingsdarsteller mitbringen, ihnen also den einst hoch bewerteten Ensemblegedanken zu opfern, wäre zu diskutieren. Da kommen künstlerische, zwischenmenschliche und arbeitsrechtliche Aspekte ins Spiel. Für die Regie und möglicherweise für das Publikum mag ein Miniteam aus Regisseur und Hauptdarsteller ein Gewinn sein. Aber wie würden die Kolleginnen und Kollegen, wie würden die Gewerkschaften reagieren, wenn ein Projektleiter, sagen wir in einer Forschungseinrichtung, das eingespielte und bewährte Kollektiv durch importierte Protegés auseinanderdividierte oder wenn ein Gastdirigent den Konzertmeister eines bewährten Orchesters durch seinen Spezi ersetzte? Der aus aktuellem Anlass hoch gepriesene Claus Peymann hat dieser Versuchung nicht nachgegeben. So beglückend und erfolgreich er mit seinen Ensembles gearbeitet hat, ließ er sich immer wieder auf neue Begegnungen ein, wenn er die Wirkungsstätte wechselte oder außerhalb der eigenen Häuser inszenierte.
Die Grenzen zwischen festen Ensembles und freien Gruppen, die sich immer häufiger in subventionierten Theatern einquartieren, verschwimmen. Wollen wir das? Die enge Zusammenarbeit zwischen Regisseuren und einzelnen Gastschauspielern ist der Kompromiss, und er hat immer wieder für außergewöhnliche Konstellationen gesorgt. Paulina Alpen ist ein bemerkenswertes Talent, und man kann es Lucia Bihler nicht verargen, dass sie auf ihrer Einladung nach Stuttgart bestand. Der Gerechtigkeit halber müssen wir zugeben, dass auch Jan Bosse mit Joachim Meyerhoff ein langjähriger Wunschkandidat zur Verfügung stand, der allerdings zum Ensemble des Burgtheaters gehörte, als Bosse dort Die Welt im Rücken inszenierte. Und dennoch: ganz geheuer ist es nicht, was sich da entwickelt.
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Der Thomas Melle der Stuttgarter Version und seine Doppelgänger sind für Lucia Bihler typische Kunstfguren mit Buckel in roter Latexkleidung und mit weißen Kniestrümpfen. Rosafarbene Vorhänge und Treppen mit Kitschappeal spielen mit. Lucia Bihler macht aus einem Monolog ein (pantomimisches) Bildertheater. Das Unheimliche ist durch den Stoff, die manisch-depressive Krankheit oder, neuerdings, die bipolare Störung vorgegeben und nähert Symbolik und Gesten E.T.A. Hoffmann und der Romantik an.
Der literarisierte Thomas Melle treibt in die Selbstauflösung, fühlt sich wie ein Ding, macht einen Selbstmordversuch. Er wird von seinen Doppelgängern gerettet, steigt als Superman zum Himmel auf, nur um alsbald abzustürzen.
1977 erschien posthum Fritz Zorns autobiografisches Buch Mars, das den damals noch weitgehend tabuisierten Krebs in den allgemeinen Diskurs brachte. Für die bipolare Störung dürfte Thomas Melles Die Welt im Rücken eine ähnliche Rolle spielen. Die Theater haben ihren Anteil daran.
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Die Welt im Rücken von Thomas Melle - am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Julian Baumann
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Thomas Rothschild – 28. September 2025 ID 15482
DIE WELT IM RÜCKEN (Schauspielhaus, 27.09.2025)
von Thomas Melle
Inszenierung: Lucia Bihler
Bühne: Paula Wellmann
Kostüme: Victoria Behr
Musik: Sixtus Preiss
Choreografie: Björn Leese und Outside Eye
Choreografische Beratung: Mats Süthoff
Licht: Felix Dreyer
Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger
Mit: Paulina Alpen (als Thomas Melle) sowe Tim Bülow, Pauline Großmann, Felix Jordan, Mina Pecik, Karl Leven Schroeder und Silvia Schwinger (als Doppelgänger)
Premiere am Schauspiel Stuttgart: 27. September 2025
Weitere Termine: 28.09./ 09., 12., 20., 26.10./ 12., 14.11.2025
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel-stuttgart.de
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