Warum
setzen
wir sie
nicht ein?
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(C) Jochen Klenk; Bildquelle: theater-heilbronn.de
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Bewertung:
Am Theater Heilbronn hatte eine Auftragsarbeit mit regionalem Bezug ihre Uraufführung. Sie handelt von einem Unfall einer Pershing-Rakete in unmittelbarer Nähe von Atomsprengköpfen vor vierzig Jahren und seinen Folgen. Regine Dura und Hans-Werner Kroesinger, die anerkannten und häufig nachgeahmten Dokumentartheatermacher, zeichnen für Text und Regie verantwortlich. Hier wird nicht gespielt, sondern vermittelt. Aber mit welchem Ziel?
Theater als Bewahrer von Geschichte oder als Einmischung in die Gegenwart? Beides. In Heilbronn wird es Wirklichkeit. Die Autoren geben an, dass sie ausschließlich vorgefundene Originaldokumente verwendet, keine eigenen Texte hinzugefügt hätten.
Pershing könnte, so unerfreulich ihre Wahrheit ist, aktueller nicht sein, und wer würde Gift darauf nehmen, dass der Verrückte im Weißen Haus wie sein russisches Pendant Putin die Anwendung von Atomwaffen nicht ebenso bedenkenlos beschließt wie die Erhöhung von Zöllen („Wenn wir Atomwaffen haben, warum setzen wir sie nicht ein?“). In einem Interview mit dem österreichischen Standard warnt der Experte für Sicherheitspolitik und bewaffnete Konflikte Carlo Masala: „Ein zerfallendes Russland bedeutet 6.000 nukleare Sprengköpfe, wo man nicht weiß, was mit denen passiert, wer Zugriff bekommt.“
Die Figuren sprechen in Pershing nur gelegentlich zueinander. In der Regel wenden sie sich frontal an das Publikum. Montage ersetzt, was im klassischen Drama Dialog war. Das ist allerdings keine neue Entwicklung und erst recht keine Erfindung der Postdramatik. Das Verfahren war schon vor mehr als einem halben Jahrhundert vor allem im politischen Kabarett gang und gäbe.
Es gab auch Widerstand gegen die Ausreden und die Ignoranz der Politik. Schon 1983 wollte die SPD-Fraktion im Heilbronner Gemeinderat den folgenden Antrag einreichen:
„1.) Der Gemeinderat der Stadt Heilbronn stellt fest, dass die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf der Heilbronner Waldheide stationierten oder gelagerten Atomwaffen aus kommunaler Sicht unerwünscht sind.
2.) Der Gemeinderat drückt den Wunsch aus, dass die Stationierung oder Lagerung von Atomwaffen auf der Waldheide aufgehoben wird und auch in Zukunft nicht mehr erfolgt.
Er ersucht alle zuständigen Stellen, diesem Wunsch Rechnung zu tragen.“
Vergeblich. Der damalige Oberbürgermeister Hans Hoffmann (SPD!) beschied in bewährter feudaler Tradition:
„Solange ich die Tagesordnung festlege, wird dieser Antrag nicht auftauchen.“ Und: „Verteidigungspolitik liegt außerhalb unserer Kompetenz! So ist es.“
Er verwies an das Innenministerium. Innenminister war Friedrich Zimmermann.
Worin besteht die Aktualität dieser Geschichtsbetrachtung? Der SPIEGEL meldet am 28. Mai 2025:
„Dokumente aus Russland zeigen, dass für den Ausbau von Atomwaffenstützpunkten Material westlicher Konzerne geordert wurde.“
Und am Tag der Heilbronner Premiere zitiert die Frankfurter Rundschau Putin:
„Egal, wer versucht, uns im Weg zu stehen oder gar eine Bedrohung für unser Land und unser Volk zu schaffen, sie müssen wissen, dass Russland sofort reagieren wird, und die Konsequenzen werden so sein, wie Sie sie in Ihrer gesamten Geschichte noch nie erlebt haben. Egal, wie sich die Ereignisse entwickeln, wir sind bereit.“
Für die einzelnen Menschen in der Ukraine und im Gazastreifen ist es ohne Belang, ob sie von Atomraketen oder von Drohnen und „konventionellen Waffen“ getötet, verstümmelt, in eine Hungersnot getrieben oder ihrer Wohnungen beraubt werden. Und die werden nicht bloß gelagert, sondern angewandt. Auch 1988 argumentierte man:
„2 Raketen, die mit atomaren Sprengköpfen bestückt werden können, sollen in Westdeutschland zur Verteidigung gegen die sowjetischen SS20-Raketen stationiert werden.“
Wo enden die „Brandherde“, und wo beginnt der Dritte Weltkrieg? Von der Wiederaufrüstung in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis zu Stalingrad und Hiroshima führt ein gerader Weg. Wie von den Nürnberger Gesetzen über die Reichspogromnacht zu den Gasöfen von Auschwitz. Und dennoch mehren sich von Tag zu Tag die Stimmen derer, die zwar die AfD nicht wählen würden, aber bereit sind, sie bedingt gewähren zu lassen. Zur Beruhigung gibt es keinen Anlass.
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Pershing von dura & kroesinger - am Theater Heilbronn | Foto (C) Jochen Klenk; Bildquelle: theater-heilbronn.de
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Thomas Rothschild – 1. Juni 2025 ID 15287
PERSHING (Theater Heilbronn, 31.05.2025)
Ein Recherche-Projekt zum 40. Jahrestag des Pershing-Unglücks auf der Heilbronner Waldheide von dura & kroesinger
Regie & Konzept: Regine Dura und Hans-Werner Kroesinger
Text: Regine Dura
Ausstattung: Jessica Rockstroh
Musik: Jonas Marc Anton Wehner
Licht: Johannes Buchholz
Dramaturgie: Mirjam Meuser
Theaterpädagogik Natascha Mundt
Mit: Pablo Guaneme Pinilla, Lisanne Hirzel, Gabriel Kemmether, Juliane Schwabe und Sven-Marcel Voss
UA war am 31. Mai 2025.
Weitere Termine: 03., 14., 28.06./ 02., 05., 17.07.2025
In Kooperation mit dem Heilbronner Stadtarchiv
Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-heilbronn.de
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