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FESTSPIELE REICHENAU 2022

Erst wann's

aus wird

sein

Ein Rückblick (2)



Mag man bei der Möwe an das Theater in der Josefstadt und bei Frühlings Erwachen an eine Schauspielschule denken, so erinnert Ein ungleiches Paar von Neil Simon in der Regie von Peter Dehler an die Kammerspiele, die Wiener Boulevardbühne. Allerdings zeigt man in Reichenau nicht die durch die Verfilmung mit Jack Lemmon und Walter Matthau weltberühmte Originalfassung, sondern die 1985 von Neil Simon selbst verfasste „weibliche Version“ der Broadway-Komödie von 1965. Offenbar hat Maria Happel. weil sie nicht nur ihren Schüler*innen, sondern auch Frauen (bei den Diversen ist sie noch nicht angekommen) Rollen anbieten wollte, den Dauerbrenner für alternde Schauspieler in dieser Sekundärfassung ins Programm genommen.

Die Beteiligten sind allesamt erfahrene Routiniers, die die einschlägigen Komödientechniken beherrschen. Nur bei Mercedes Echerer wünscht man sich, sie wäre in der Politik geblieben, statt zu feixen und mit den Armen zu fuchteln. Und sie spricht tatsächlich, man glaubt es nicht, „Ureinwohner:innen“ mit einer Zäsur, die politisch korrekt sein mag, in der Bühnensprache aber unfreiwillig bizarr wirkt.

Allerdings ist das permanente Grimassieren und die Pseudolustigkeit der gesamten Inszenierung geeignet, das böswillige Vorurteil zu bestärken, dass Frauen exhibitionistisch und hysterisch seien. Das hat mit Komik so viel zu tun wie Paint it Black in der Interpretation von Petra Morzé, der einen Hälfte des Ungleichen Paares neben Fanny Stavjanik, der Tochter des unvergessenen Edd Stavjanik, mit Mick Jagger. Am besten gelingt noch die Parodie von Spanien-Klischees. En passant: das längst vergessene verdienstvolle Dramatische Zentrum Wien in der Biographie eines Mitwirkenden als „berüchtigt“ zu kennzeichnen, grenzt an Denunziation.

Bewertung:    



Ein ungleiches Paar von Neil Simon - bei den FESTSPIELEN REICHENAU 2022
Foto (C) Lalo Jodlbauer

* * *

Unter dem Titel Über unsere Verhältnisse trugen Maria Happel und Michael Maertens, beginnend mit Ein Ehepaar erzählt einen Witz von Kurt Tucholsky, launige Gedichte, Dialoge und Lieder von Ringelnatz, Kästner, Fritz Grünbaum vor. Die erste Hälfte erinnerte mit klappernden Versen und zwanghaften Reimen stark an die „Bunten Abende“ der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrem in die Jahre gekommenen Humor. Maria Happels Liedrepertoire reichte von dem Volkslied Dat du min Leevsten büst bis zu Fritzi Massarys Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben. Michael Maertens wiederum versuchte sich an Georg Kreislers Mädchen mit den drei blauen Augen und merkte nach der ersten Strophe, dass er, am Akkordeon begleitet von Tommy Hojsa, falsch sang. Es folgten Szenen von Loriot und Texte von Woody Allen. Ein Höhepunkt: Maria Happels Kampf mit dem "th" bei der Inhaltsangabe einer englischen Krimiserie. Den Abschluss bildete das Abschiedssouper aus Arthur Schnitzlers Anatol. Auch wenn man nicht an Hannerl Matz in der Rolle der Annie denkt und sich nicht daran stört, dass dieser Anatol – welch ein schönes Anagramm – aus Altona statt aus Wien stammt, verliert die Szene an Wirkung, wenn sie im Eiltempo vom Blatt gelesen wird. Das war ein Abgang unterhalb der Möglichkeiten des ungleichen Paares.

Eine über den ganzen Juli verteilte Nebenreihe trägt den von Thomas Bernhard entlehnten Titel Alte Meister. Es geht aber nicht um Bilder im Wiener Kunsthistorischen Museum, sondern um zum Glück noch lebende Meister des Theaters, mit denen Maria Happel und je einmal Michael Maertens und Petra Morzé Gespräche führen. Den Anfang machte, an dem Tag, an dem der Tod des großen Peter Brook gemeldet wurde, Hermann Beil, Wegbegleiter von Claus Peymann und seit längerem Regisseur bei den FESTSPIELEN REICHENAU, der sich als Dramaturg entschieden gegen die Hinzufügung fremder Texte zu alten Stücken aussprach. Ich kenne Beil seit fast fünfzig Jahren und habe ihn stets als zurückhaltend, eher wortkarg erlebt. Nun durfte ich erfahren, was für ein lebhafter Erzähler er ist. Ein Schatz von Theateranekdoten sprudelte aus ihm heraus, noch ehe Maria Happel ihre vorbereiteten Fragen stellen konnte, und man musste Beils phänomenales Gedächtnis bewundern, für Titel, Namen, Jahreszahlen. Und man hätte gerne gewusst, wer sich heute noch, in dieser schnelllebigen (Theater)Welt, an Traugott Buhre oder Urs Hefti erinnert. „Verachtet mir die Meister nicht und ehret ihren Stand“, möchte man mit Hans Sachs fordern. Es gilt nicht nur für die Handwerker, sondern auch für die Theaterberufe.

Für Kinder, aber auch für Erwachsene spielte ein kleines Jugendorchester Peter und der Wolf. Die Sprecherrolle übernahm Maria Happel. Fast alle Kinder hörten gespannt zu. Nur zwei Mütter, die offensichtlich Selbstverwirklichung, nicht aber Rücksichtnahme als Erziehungsziel für ihren Nachwuchs definieren, ließen diesen umher tollen. Die meisten Besucher fanden ihn nicht halb so niedlich wie ihre Gebärerinnen. Umso lieber sah man jenen Kindern zu, die nach dem Prokofjew Instrumente ausprobieren durften.



Die meisten Besucher der FESTSPIELE REICHENAU kehren nach der Vorstellung nach Hause zurück. Langzeitzuschauer gibt es kaum. Die Gemeinde profitiert wenig von ihnen. Neuerdings wird sogar ein Shuttle aus Wien angeboten. Nach den Abendvorstellungen haben viele Lokale bereits geschlossen. Nicht nur Reichenau, das gesamte Semmeringgebiet hat einen dramatischen Niedergang erlebt. Es ist, wie in Österreich nur noch Bad Gastein, von Tristesse und Verfall gezeichnet. Die beiden Vorzeigehotels, das Panhans und das Südbahnhotel, wurden von österreichischen und ukrainischen Investoren zugrunde gerichtet. In einer verzweifelten Anstrengung versuchen das Land Niederösterreich und die Gemeinden nun die Umgebung des Semmerings wieder aufzuwerten und durch ein vielfältiges Kulturangebot, nicht allein mit Maria Happel an der Rax, zusätzliche Gäste anzulocken. Am Semmering selbst buhlen jetzt der Kultur.Sommer im Panhans und einem davor neu errichteten Pavillon und eine Veranstaltungsreihe im Südbahnhotel, aus dem der Kultur.Sommer.Semmering vertrieben wurde, mit vor allem durch das Fernsehen bekannten Namen und Literatur, Musik und, klar, „Kulinarik“ um die Aufmerksamkeit eines erträumten Publikums. Wenn Konkurrenz das Geschäft belebt, kann man nur hoffen, dass da etwas ist, was sich beleben lässt.

Der Kabarettist, Schauspieler und beliebte Fernsehdarsteller Erwin Steinhauer, der inzwischen ein wenig aussieht wie Claude Rains in Casablanca, nur etwas größer und kompakter, las beim Kultur.Sommer.Semmering Joseph Roths späte Erzählung Der Leviathan, eine Parabel über den Traum von der Schönheit und das Wesen unverfälschter Kunst. Joseph Roth ist mit gutem Grund ein Favorit für Lesungen. Er hat zwar keine Dramen geschrieben, aber die Sprache seiner epischen Werke ist so musikalisch, so klangschön, dass sie für jeden Schauspieler eine Herausforderung bedeutet. Nun mag man sich fragen, warum man sich etwas vorlesen lassen soll, wenn man, anders als der Protagonist von Roths Erzählung, der Korallenhändler Nissen Piczenik aus Progrody, selbst lesen kann. Steinhauer macht es plausibel. Er verleiht dem Text eine Transparenz, arbeitet seine sanft ironische und seine wehmütig sentimentale Seite gleichermaßen heraus. Und er vermittelt die zeitgemäße Einsicht, dass wir zugrunde gehen an einem System, das, um des Profits willen, das Echte zugunsten des Schäbigen vernichtet. Unterstützt wird er dabei durch das virtuose und tonmalerische Spiel auf der Knopfharmonika von Andrej Serkov.

Tschuschen: das Wort ist eine Verballhornung des slawischen Worts für „fremd“, „Fremder“. In Österreich wird es als Schimpfwort für Ausländer, insbesondere für „Jugoslawen“, abwertend also benützt. Es charakterisiert jene, die es benützen, genauer als jene, die es benennen will – nämlich als rassistische Chauvinisten.

In Wien gibt es ein Ensemble mit Slavko Ninić als konstantem Zentrum, das sich selbst Tschuschenkapelle nennt. Man hat also die diskriminierende Bezeichnung, indem man sie auf sich selbst anwendet, ins Positive gewendet, ähnlich wie die Homosexuellen den Begriff „Schwule“. Die Musik dieser Band stammt aus dem südslawischen Raum, aber auch aus der Türkei, aus Griechenland, aus Ungarn, aus Rumänien, aus Russland und aus dem Wohnort ihrer Mitglieder, aus Wien. Sie war am ersten Tag des Kultur.Sommers am Semmering zu hören.




Wiener Tschuschenkapelle | © Michael Winkelmann;
Bildquelle: kultursommer-semmering.at


Die Wiener Tschuschenkapelle hat Lieder im Repertoire und Instrumentalstücke. Neben Liedern aus diversen Balkanländern mit ihren ungerade Taktarten, neben Walzern und Märschen, sang sie auch Wiener Heurigenlieder („Erst wann's aus wird sein, mit aner Musi' und mit'n Wein,/ Dann pack' ma die sieb'n Zwetschk'n ein, eh'nder net“), die sie in Balkanrhytmen überführt. Der Pavillon war gut gefüllt. Man hat in Österreich dazugelernt.

Thomas Rothschild – 11. Juli 2022 (2)
ID 13707
https://www.theaterreichenau.at/de

https://www.kultursommer-semmering.at/


Post an Dr. Thomas Rothschild

FESTSPIELE REICHENAU 2022 (Teil 1)

ROTHSCHILDS KOLUMNEN

Theaterkritiken



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