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Konzertkritik

Vermächtnisse

Elisabeth Leonskaja spielte Schuberts drei letzte Klaviersonaten


Foto (C) Marco Borggreve

Bewertung:    



Elisabeth Leonskaja (80), die große russische Dame des Klaviers (sie wurde 1945 im georgischen Tiflis, was zu dieser Zeit unter sowjetischer Fuchtel stand, geboren) war und ist eine Weltreisende, es dürfte kaum einen Konzertsaal von Rang geben, in dem sie noch nicht konzertiert hätte - ich erlebte sie erst vor wenigen Tagen in der Kölner Philharmonie, wo sie mit dem Concertgebouw Kamerorkest gastierte.

Merkwürdigerweise "erwischte" ich sie nie zu meiner DDR-Jugend, während der sie auch regelmäßig in Ostberlin, Dresden oder Leipzig am Flügel saß, insbesondere Kurt Masur hielt seiner Zeit sehr viel von ihr, und so verewigten sie sich auch gelegentlich auf Platte; ich besorgte mir deswegen jetzt extra die alten CDs mit den Tschaikowski-Klavierkonzerten; das zweite und dritte begleitete das Gewandhausorchester, beim ersten übernahmen die New Yorker Philharmoniker den Orchesterpart, beides grandiose Aufnahmen.

Auch gibt es zahlreiche Schubert-Einspielungen mit ihr, vor drei Jahren veröffentlichte Warner Classics sämtliche Sonaten und die Wanderer-Fantasie - die Leonskaja war jedoch auch schon die Jahre und Jahrzehnte zuvor mit Schubert-Platten auf dem Phonomarkt vertreten, die Liste reicht da bis 1992 und weiter zurück...

Dienstagabend nun war sie im voll besetzten Kammermusiksaal der Philharmonie Berlin und entschied sich bei ihrem neuerliches Recital für Schuberts letzte drei Sonaten:



"War es für Franz Schubert Zeit zu gehen, als er [...] 1828, in seinem letzten Sommer, die Klaviersonaten in c-Moll, A-Dur und B-Dur parallel komponierte, vergleichbar einem dreiteiligen Opus der Barockzeit? Todesahnungen, ja Todessehnsucht und Erlösungsfantasien finden sich schon in den Werken des noch jüngeren Franz Schubert. Mit der stigmatisierenden Krankheit der Syphillis jedoch, von der er seit den frühen 1820er-Jahren wusste, und mit den Schrecken der unheilvollen Heilverfahren sowie der unfreiwilligen Isolation dieses unmäßig geselligen Menschen senkte sich die Finsternis, die schwärzeste Verzweiflung auf Schuberts Musik, aus der es kein Entkommen mehr gab, sondern nur die Flucht in eine fiebrig überhitzte Produktivität oder auf den Traumpfad hinaus auf die andere Seite der Wirklichkeit. Dies zeigt sich besonders in der allerletzten, der B-Dur-Sonate, die sich wie in Trance zu bewegen scheint, langsam und gedämpft, von merkwürdigen Stimmen, Zeichen, Zurufen aus der Tiefe geleitet, in die Tiefe gelockt." (Quelle: Wolfgang Stähr im Programmheft)


*

Ohne jedes Übermaß an Auftrittsgesten kommt sie festen Schritts aus der sich plötzlich öffnenden Tür links unterhalb der kleinen Chorempore, erwidert den Willkommensbeifall ihres Publikums mit einem freundlichen Lächeln, verbeugt sich kurz zur Vorder- und danach zur Hinterseite, nimmt am Steinway Platz und fängt zu spielen an...

Ich sitze mittig in der 3. Reihe im Block A und kann sie während ihres langen Abends (er dauert inkl. Pause/ Zugabe bis weit nach 22.30 Uhr) rechtsseitig sehen, alle ihre Mimiken und Gesten während ihres Spiels vermag ich daher ziemlich lange für mich abzuspeichern.

Bevor sie den langsamen Satz der c-Moll-Sonate anzuschlagen willens ist, wartet sie höflich und geduldig ab bis sich die letzten penetranten Huster im Saal einigermaßen beruhigen (es ist mir jedes Mal ein absolutes Rätsel, warum erkältete Leute überhaupt erst ins Konzert gehen, obgleich sie wissen müssten, dass sie mit ihren Bronchialattacken die Verantstaltung regelrecht zur torpedieren in der Lage sind, mein Gott, dann bleibt doch bitte zuhause, es gehört sich einfach nicht Musik derart zu stören).

Die Leonskaja kommt ohne große Anläufe "in ihren Rhythmus" - das den ganzen Abend über mehr oder weniger existierende Publikumsgehuste blendet sie gänzlich für sich aus, sie schaltet es ab; und sie verschließt die meiste Zeit über, während sie spielt, die Augen, oder es sieht so aus, dass sie sie verschließt, und eigentlich blickt sie womöglich tief und unerbittlich auf die Klaviatur, sie muss etliches Handüberkreuzen meistern, kurzum, ihr Augen-zu-Sein ist als solches nicht als ein-eindeutig verifizierbar. Dass ihr sowohl geistiger wie emotionaler Konzentrationspegel permanent im Ausschlagen begriffen ist, bleibt ohne alle Zweifel augenscheinlich; sie trägt diese Kämpfe innerlich aus, verzichtet also gänzlich auf (bei manchen ihrer Kolleginnen und Kollegen sich manisch artikulierende) Gefühlsexplosionen, Gott sei Dank macht sie sowas nicht.

Ihr Schubert klingt an den krassesten der krassen Stellen - besonders die drei letzten Sonaten sind in ihrer musikalischen wie dramaturgischen Hochkomplexheit kaum noch als lebensbejahend missdeutbar - schwarz oder schwärzest besetzt, will heißen, dass ich zwischen, unter oder hinter ihnen buchstäblich den Gevatter Tod, und zwar mit Sense und mit Totenschädel, zu hören, zu riechen und zu sehen meinte; der helle Wahnsinn, wie sie das macht!

Erdnah und unvergesslich.

Andre Sokolowski - 17. Dezember 2025
ID 15613
KLAVIERABEND (Kammermusiksaal der Philharmonie Berlin, 16.12.2025)
Franz Schubert: Klaviersonate c-Moll D 958
- Klaviersonate A-Dur D 959
- Klaviersonate B-Dur D 960
Elisabeth Leonskaja, Klavier


Weitere Infos siehe auch: https://www.leonskaja.com/


https://www.andre-sokolowski.de

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