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Vater-Essay von Édouard Louis



Wer hat meinen Vater umgebracht am Münchner Volkstheater | Foto (C) Gabriela Neeb

Bewertung:    



Nach dem französischen Autor, Soziologen und Philosophen Didier Éribon hat das deutschsprachige Theater auch dessen 27jährigen Schüler Édouard Louis entdeckt. Das Ende von Eddy oder Im Herzen der Gewalt sind aktuelles theatralisches Futter, genau wie Eribons Rückkehr nach Reims stark autobiografisch durchsetzt und scharf prononcierte Debattenbeiträge in Sachen französischer Sozialpolitik wie auch Identitätspolitik und schwuler Selbstermächtigung. Nun hat der junge Regisseur Philipp Arnold Louis’ 2019 erschienenen etwa 70 Seiten kurzen Essay Wer hat meinen Vater umgebracht für die kleine Bühne des Münchner Volkstheaters adaptiert.

*

In dem nur knapp eine Stunde dauernden Abend verwendet Regisseur Arnold aber auch Texte aus Louis‘ 2015 auf deutsch erschienenem autobiografischen Roman Das Ende von Eddy. „An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung“ ist so ein zentraler Satz aus diesem Buch, an das sich der Essay von Louis anschließt und das gespaltene Verhältnis zum Vater thematisiert. Jakob Geßner, Jonathan Hutter und Anne Stein in fliederfarbenen Hosen und Unterhemden teilen sich die Rollen des Sohnes, Vaters und der Mutter, wobei viel mit Gummimasken gearbeitet und die Rollenzuschreibungen fliesend gewechselt werden. Spielort ist ein mit durchsichtiger Gaze ausgekleidetes hölzernes Hausgerüst, das nach und nach entkleidet wird, wobei die mit Livekamera gefilmten Gesichter der drei, immer wieder auf die Rückwand des Hauses projiziert werden.

Das ist schon fast alles an theatralen Hilfsmitteln zur szenischen Unterstützung des Textes, der sich mit den Kindheitserinnerungen von Éduard Louis, aufgewachsen in einem Dorf in Nordfrankreich, an Vater und Mutter beschäftigt, der schwierigen Annäherung an den harten Vater, der nur beim Singen im Auto auch mal Nähe zeigte, und ansonsten den kleinen Eddy wegen dessen schriller Stimme und tuntigen Bewegungen beschimpfte und ihn aufforderte männlich zu sein. Auch in der Mutter findet Eddy keine große Hilfe. Die Rollen in der Familie sind klar verteilt. Trinken, Fabrikarbeit und Bildungsverweigerung gelten als männlich. Und auch wenn der Vater nie direkt gewalttätig war, werden diese Rollenbilder auch über die Mutter von Generation zu Generation weiter gegeben.

Die Rache Eddys sind die Aufhetzung des Bruders und der Mutter gegen den Vater, bei deren Streit er Genugtuung empfindet. Erst später, wenn der Vater schon durch die harte Fabrikarbeit krank geworden ist, nähern sich beide wieder an. Über die Mutter erfährt Eddy, wie sie den Vater kennengelernt hat, dass er gerne tanzte und Parfum benutzte, oder der sich sonst homo- und xenophob gebende Mann in seiner Zeit in Südfrankreich einen maghrebinischen Freund hatte. Das totalitäre Gehabe des Vaters entspricht aber seiner Rolle als Mann. Der Lauf der Dinge als erwartete Reproduktion dieses Verhaltens über Generationen. Louis zieht hier die soziologische Parallele von Rassismus, Armut und frühem Tod. Die Politik ist dabei für die prekär lebenden Arbeiter nicht wie für die herrschende Elite nur eine Frage der Ästhetik, wie es im Text heißt, sondern eine Sache von Leben und Tod. Namentlich nennt Louis die französischen Präsidenten von Chirac über Sarkozy und Hollande bis zu Macron, die er für das gesundheitliche Elend seine Vaters verantwortlich macht.

Hier wird die soziale Frage in einer minutenlangen Wut-Suada von Jonathan Hutter gestellt. Die fortgesetzten sozialen Streichungen der politisch Verantwortlichen haben seinem Vater das Kreuz gebrochen und als Sozialhilfeempfänger zum „Faulpelz“ abgestempelt. Die Geschichte soll diese Namen nicht vergessen. Von Revolution ist da am Ende noch kurz die Rede, bevor die drei Performer sich wieder unter die Livekamera legen und mit Céline Dions Hit It’s All Coming Back To Me Now heile Familienwelt spielen. Eine die Louis nie hatte. Entkommen und kämpfen war seine Alternative. Wie der Autor dabei die soziale und Klassenfrage mit der Identitätspolitik im Großen zusammendenkt, wird hier im Kleinen der Theaterbühne ganz anschaulich und nachvollziehbar dargestellt.




Wer hat meinen Vater umgebracht am Münchner Volkstheater | Foto (C) Gabriela Neeb

Stefan Bock - 30. Dezember 2019
ID 11909
WER HAT MEINEN VATER UMGEBRACHT (Kleine Bühne, 29.12.2019)
Regie: Philipp Arnold
Bühne & Kostüm: Belle Santos
Dramaturgie: Katja Friedrich
Sounddesign: Adel Alameddine
Mit: Jakob Geßner, Jonathan Hutter und Anne Stein
Premiere am Münchner Volkstheater: 13. Dezember 2019
Weitere Termine: 02., 09., 10., 31.01. / 01., 23., 24., 27.02.2020


Weitere Infos siehe auch: https://www.muenchner-volkstheater.de/


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