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THE HUMAN CONDITION frei nach Hannah Arendts Vita activa oder Vom tätigen Leben an der Schaubühne Berlin | Foto (C) Gianmarco Bresadola

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Hannah Arendt (1906-1975) bezeichnete sich selbst nicht als Philosophin sondern eher als politische Theoretikerin. Ihre zahlreich erschienenen Publikationen behandeln dann auch so politisch wichtige Themen wie den Totalitarismus, die Revolution, die Banalität des Bösen oder auch Macht und Gewalt. Als das Hauptwerk von Hannah Arendt gilt aber das 1958 in Englisch erschienene Buch The Human Condition, das die Autorin 1960 selbst ins Deutsche übersetzte und Vita activa oder Vom tätigen Leben nannte. Um dieses tätige Leben oder das politische Handeln des Menschen geht es auch in dem von Theatermacher Patrick Wengeroth realisierten Diskurs-Theaterstück THE HUMAN CONDITION, das vor ein paar Tagen im Studio der Schaubühne am Lehniner Platz Premiere hatte.

*

Und Patrick Wengenroth beginnt sozusagen mit dem Anfang, will heißen mit dem was Hannah Arendt über den Ursprung des Menschen und „das Anfangen eines Wesens, das selbst im Besitz der Fähigkeit ist, anzufangen“ sagt. Ins schwarze Nichts der Bühne setzen sich dazu Florian Anderer, Iris Becher, Ruth Rosenfeld, Musiker Matze Kloppe und Patrick Wengenroth selbst zunächst auf Klappstühle und schauen lächelnd erwartungsvoll ins Publikum, bevor sie uns dann doch den Rücken zukehren. Den Anfang bzw. Anfänger macht dann Florian Anderer mit einem vollendeten Klappstuhl-Slapstick, wie wir ihn auch schon in seiner eigenen Schaubühnen-Produktion Prometheus sehen konnten.

„Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen“ ist dann der erlösende Satz aus der Stuhlverknotung. Sehr viel mehr sagt das aber erstmal nicht. Die Menschheit ist bei Wengenroth geteilt in uns Zuschauer und die Akteure auf der Bühne, die mit ihrer tätigen Aktion auch scheitern könnten, während wir das zu bewerten hätten. Das klingt nach einer Entschuldigung und Drohung gleichermaßen. Mit der mit gelben Klebezetteln markierten Arendt-Bibel in der Hand dackelt Wengeroth, der sich dann immer wieder auch einen Hundekopf aufsetzt, über die Bühne und gibt Leseproben zur Veranschaulichung, worum es da in diesem dicken Wälzer geht. Schlagworterklärung, die man eigentlich schon dem Programmzettel entnehmen könnte. Arbeiten, Herstellen, Handeln lautet der Arendt’sche Dreisatz, den Wengenroth hier erstmal auseinandernimmt. Begriffe wie Natalität und Mortalität, Natur und Dingwelt müssen erklärt werden, bevor er tiefer in den Wälzer einsteigen kann. Auch das der einzelne Mensch erst in der Gemeinschaft zum politisch tätigen Mensch werden kann.

Aber der politische Bereich ist bei Arendt auch Bühne. Und damit es nicht ganz so trocken wird, gibt es zwischendrin ein paar Musikeinlagen, bei denen Ruth Rosenfeldt, Iris Becher und Florian Anderer, der auch mal „Ich bin eine anderer“ kalauert, zum Beispiel I’ll Be Your Mirror von Velvet Underground & Nico singen, anscheinend der Lieblingssong von Theaterleuten zum Thema Reflexion. Der Mensch der Neuzeit ist nach dem Wegfall der Götter dazu verdammt, sich zu suchen und in sich selbst zu finden. Bei Hannah Arendt geht es natürlich auch ums Denken (und zwar ohne Geländer) Und Denken („der stille Dialog zwischen mir und mir“) ist bekanntlich auch Arbeit, womit wir wieder bei der heiligen Dreieinigkeit der Tätigkeiten nach Hannah Arendt wären. Eigentlich geht es Wengenroth aber um die Crux, zwischen dem Herstellen von Dingen, Haushalt und Konsumieren nicht zum Handeln zu kommen. Arendt geht hier zurück auf Marx, was Wengenroth auch kurz erwähnt. Die wenige verbleibende Zeit zur Erholung benutzt der Mensch zumeist für Hobbys. Vor lauter Hackeln und Konsumieren kommt der Mensch im Kapitalismus also nicht mehr zum politischen Handeln. Eine gängige Wahrheit, oder besser noch Ausrede.

Daraus hätte man durchaus etwas machen können, auch aus Hannah Arendts Konzept von Pluralität im politischen Raum und ihrer Skepsis gegenüber repräsentativen Demokratien. Das politische Handeln des Menschen beschränkt sich ja zumeist nur noch in der Stimmabgabe bei Wahlen, wo gerade einige Enttäuschte in den neuen Bundesländern ihre eigene Form des politischen Handelns im trotzigen Protest gegen die etablierten Handlungsträger gefunden haben. Aber weder dazu noch zum Thema Machtlosigkeit, Nicht-Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen oder auch zum schönen Begriff der „Kollektiven Verantwortung“ fällt Patrick Wengenroth etwas ein. Dafür gibt’s ein albernes Hier-oder-Da-sein-Spiel und werden Platten mit spiegelnden Folien ausgelegt, auf denen das Ensemble Nietzsche (warum eigentlich nicht Heidegger) zitierende Astronauten spielt, oder das bekannte TV-Interview Hannah Arendts mit Günter Gaus nachgestellt.

Das gibt zumindest nochmal Arendts Einschätzung zum feindseligen Verhältnis der Philosophie zur Politik wieder. Dass sie dabei auch Einblick in ihre heute nicht mehr ganz aktuelle Sicht auf die Emanzipation und Frauen in Führungspositionen gibt, bleibt nur fahler Nebeneffekt. Gleichwohl befällt Wengenroth doch ein bestimmtes Missbehagen beim Betrachten der heutigen Realität und er wirft sich am Ende resignierend zu Boden. Was auch nur eine hohle Pose zum Problem der Möglichkeit des Scheiterns als handeln wollendes Wesen bleibt. Da können auch der bis dahin stumme Matze Kloppe mit ein paar aufmunternden Worten und Iris Becher mit dem melancholischen Keane-Hit Somewhere Only We Know den leider ziemlich handlungsarmen Abend nicht mehr retten.



The Human Condition mit Patrick Wegenroth, Iris Becher, Florian Anderer, Ruth Rosenfeld und Matze Kloppe (v.l.n.r.) | Foto (C) Gianmarco Bresadola

Stefan Bock - 5. September 2019
ID 11659
THE HUMAN CONDITION (Studio, 03.09.2019)
Realisation: Patrick Wengenroth
Bühne: Mascha Mazur
Kostüme: Ulrike Gutbrod
Musik: Matze Kloppe
Dramaturgie: Bettina Ehrlich
Mit: Florian Anderer, Iris Becher, Matze Kloppe, Ruth Rosenfeld und Patrick Wengenroth
Premiere an der Schaubühne Berlin: 31. August 2019
Weitere Termine: 23., 24.09. / 29., 30.10.2019


Weitere Infos siehe auch: https://www.schaubuehne.de/


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