Scheerbart statt
Shakespeare
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Es lebe Europa im Globe Berlin | Foto (C) Thorsten Wulff
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Bewertung:
Er träumte von Häusern ganz aus Glas, wollte ein Perpetuum Mobile bauen und schuf nebenbei ein umfangreiches Werk aus Kurzgedichten wie etwa die Katerpoesie, Erzählungen und zum Teil recht phantastischen Romanen, deren Handlung im Orient oder auf fernen Planeten angesiedelt sind. Zuletzt erinnerte die Berlinische Galerie 2016 mit der Ausstellung Visionäre der Moderne - Paul Scheerbart, Bruno Taut, Paul Goesch an den eigenwilligen Berliner Bohemian, Dichter, Schriftsteller und Zeichner Paul Scheerbart (1863-1915). Als Wegbereiter der Lautpoesie und Vorbild der Dadaisten in die Literaturgeschichte eingegangen, war ihm aber selbst kein großer finanzieller Erfolg beschieden.
Scheerbart statt Shakespeare? Dass das geht, zeigt das Globe Berlin, das für seine dritte Prolog-Saison Paul Scheerbart der Vergessenheit entreißt und acht skurril-absurde Kurzdramen aus seiner Sammlung Revolutionäre Theaterbibliothek zu einem Open-Air-Theater-Abend zusammenfügt. Eine „revolutionierende Kraft im radikaleren Sinne“ sollte der Inhalt dieses Theaters ausströmen, steht im vom Autor verfassten Vorwort. Heute ist die anarchische Kraft der kurzen kabarettartigen Stücke oft nur noch zu erahnen. Schon die damalige Literaturkritik meinte es trotz Unterstützung von Erich Mühsam oder Walter Benjamin nicht allzu gut mit Scheerbart, der immerhin im renommierten Inselverlag bzw. bei Ernst Rowohlt veröffentlichen konnte.
Die große Experimentierlust des Autors ist dann wohl auch einer der Gründe, dass sein der ausufernder Form wegen kritisierte Werk in Vergessenheit geriet. Ernst Rowohlt hatte sich einen Vers Scheerbarts zum Leitspruch gemacht, dessen Inhalt heute trotz benutztem Femininum wieder für etwas Befremden sorgen dürfte: „Charakter ist nur Eigensinn. Es lebe die Zigeunerin!“ Der sehr spezielle Humor Scheerbarts zeigt sich auch in den acht Kurzdramen, die das Globe-Ensemble in der aus den Holzteilen des weiterhin auf seine Errichtung wartenden Theaterbaus zusammengefügten Open O-Bühne unter dem Titel Es lebe Europa in zwei Teilen mit einer Pause zum Besten gibt.
Nach einem melancholischen und für einen Choral vertonten Kurzgedicht Scheerbarts, das von der Sehnsucht des Autors nach maßlosem Trunk erzählt, beginnt das vierköpfige Ensemble (Johanna Paliege, Saskia von Winterfeld, Peter Beck, Uwe Neumann) mit dem drei Akte umfassenden titelgebenden Stück, das von der Gründung eines Europabundes handelt und im finanziellen Chaos der Gründer und Wirtschaftslobbyisten endet. Aktualität ist trotz der recht absurden Form durchaus beabsichtigt. Die unter weißen Stoffmasken agierenden SchauspielerInnen wirken hier wie Geister aus einer vergangenen Zeit. Halb hinter der Holzbalustrade entspinnt sich so ein böses Kasperletheater.
Jens Schmidl, der auch beim wieder im Spielplan stehenden Sturm von Shakespeare Regie führte, schwebt für seine Inszenierung eine Art Totentanz und tragischer Reigen gesellschaftlichen Stillstands ohne Zukunftsvision vor. Die Stückinhalte geben das zumeist auf recht unterschiedliche Weise wieder. Mal geht es sketchartig um eine von ewigen Nachtwächtern behütete Dauerwurst, die sich ein geheimnisvoller Herr in Grün schlau ergaunert. Dann wieder um den sicheren Job, den eine begüterte Großmutter ihrer Enkelin aufzwingen will. Das Streben nach finanzieller Absicherung steht hier positiven Zukunftsvisionen entgegen. Deutschtümelnden Gehorsam und einen überholten Ehrenkodex nimmt die als „Constantinopolitanische Offizierstragödie“ untertitelte Farce Der Schornsteinfeger aufs Korn. Scheerbart, zeitlebens Pazifist, kritisierte darin die kaiserlichen Militärreformen im damaligen Osmanischen Reich und dessen Aufrüstung, was als irre Klamotte mit Knalleffekt daherkommt.
Unterbrochen durch Live-Musik und ein absurdes Lautgedicht Scheerbarts spulen sich die kurzen Einakter auch nach der Pause weiter ab. Besonders lustig ist das Stück Der Direktor, für das Scheerbart eine nur mit dem Kopf nickende stumme Puppe als Theaterdirektor vorsah. Ihm gegenüber steht eine Schauspielerin beim abstrusen vergeblichen Vorsprechversuch, was die Situation des kaum gespielten Künstlers vor der unnahbaren Institution Theater wiederspiegelt und auch heute seine Gültigkeit nicht verloren haben dürfte. Interessant ist das Verschränken der beiden Dramen Das Mirakel und Der Herr aus dem Jenseits, die szenisch wechselnd aufgeführt werden. Im Mirakel philosophiert ein Paar über ihre vergangene Beziehung, Übersinnliches und die Sehnsucht nach fernen Welten, während der sogenannte Herr aus dem Jenseits eine gutgläubige junge Dame um ihr Erbe bringt. Insgesamt ein recht unterhaltsamer Abend, dessen Sinn sich nicht jedem uneingeschränkt erschließen wird, der aber einen guten Einblick in die Gedankenwelten Paul Scheerbarts gibt.
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Es lebe Europa im Globe Berlin | Foto (C) Thorsten Wulff
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Stefan Bock - 16. August 2021 ID 13082
ES LEBE EUROPA (Globe Berlin, 12.08.2021)
Regie: Jens Schmidl
Ausstattung: Thomas Lorenz-Herting
Musik: Bernd Medek
Mit: Johanna Paliege, Saskia von Winterfeld, Peter Beck und Uwe Neumann
Premiere war am 12. August 2021.
Weitere Termine: 29.08. / 11., 12.09.2021
Weitere Infos siehe auch: https://globe.berlin/
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