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Eine Straße in Moskau

Am Staatsschauspiel Dresden bringt Sebastian Baumgarten den zwischen dem Beginn des Ersten Weltkriegs und den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution spielenden Roman des russischen Exilschriftstellers Michail Ossorgin zur Uraufführung
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Etwas spät - zwei Jahre nach dem Jahrhundert-Jubiläum der russischen Oktoberrevolution und eins nach dem zum Ende des Ersten Weltkriegs - aber nicht zu spät kommt ein Roman des russischen Exil-Schriftstellers Michail Ossorgin (1878-1942), der die Jahre 1914 bis 1920 aus Sicht der Bewohner einer kleinen Moskauer Straße behandelt auf die große Bühne des Staatsschauspiels Dresden. Ossorgin hatte Siwzew Wrashek 1928 im Pariser Exil geschrieben. Unter dem Titel Der Wolf kreist erschien der Roman 1929 erstmals auf Deutsch, geriet dann aber in Vergessenheit und erlebte erst nach der Auflösung der Sowjetunion in den 1990er Jahren eine Renaissance in Russland. 2015 in neuer deutscher Übersetzung unter dem Titel Eine Straße in Moskau in der Reihe „Die Andere Bibliothek“ erschienen, wurde Ossorgins Roman gleich zur literarischen Sensation erklärt.

Die Kritiker verglichen Ossorgin sogar mit Michail Bulgakow. Wenn auch sein Stil nicht ganz an die fantastischen Gesellschaftssatiren von Bulgakow heranreicht, besitzt Ossorgins Erstling eine poetische Sprache, mit der der Schriftsteller die Russland so gravierend verändernden Ereignisse wie den Ersten Weltkrieg, November- und Oktoberrevolution sowie die ersten Jahre unter der Sowjetherrschaft aus Sicht der bürgerlichen gebildeten Mittelschicht, aber auch die sich in Aufruhr befindliche Gesellschaft und sich ändernde Zeit mit eingeschobenen Metaphern aus der Natur oder von Dingen erzählt.

Zwischen den Szenen mit den Hauptpersonen, dem Ornithologe Professor Iwan Alexandrowitsch und seiner bei ihm und seiner Frau lebende und zu Beginn 16jährigen Enkelin Tanja, genannt Tanjuscha, kommen auch Vogelschwärme Jagdfliegern in die Quere, oder unterhöhlen Mäuse den Fußboden der Wohnung des Professors und jagen des Nachts auf der Flucht vor der Katze durchs Haus, in der die Kuckucksuhr, nachdem sich eine Schraube gelöst hat, die Zeit bildlich rasen lässt. Die sprichwörtliche „Saat des Bösen“ geht auf, und eine Parabel, bei der eine aggressive Art von Rotpelzen eine Meerkatzenpopulation im Zoo dezimiert, soll den Terror der Bürgerkriegsjahre versinnbildlichen.

*

Auch Regisseur Sebastian Baumgarten bemüht diese Metaphern und springt bei seiner Inszenierung immer wieder in der Zeit und ändert seine Theatermittel. Der Abend beginnt wie ein Stummfilm, in dem Szenen des Romans wie der 17. Geburtstag Tanjuschas (Luise Aschenbrenner) und andere Ereignisse im Haus des Professors (Holger Hübner) aus dem Off erzählt werden, während das Ensemble in z.T. pantomimischer Performance zu eingeblendeten Übertiteln und Videoprojektionen der besagten Mäuse agiert. Baumgarten hat das Personal zwar etwas ausgedünnt, bedient im Teil Eins bis zur Pause aber schon ein Großteil der Romanhandlung, die kurz vor dem Erstem Weltkrieg beginnt und bei der Geburtstagsfeier vor allem junge Kriegsfreiwillige und national gesinnte Russen wie den Studenten Ehrberg (Thomas Wodianka) und den zaristischen Offizier Stolnikow (Moritz Kienemann) zusammenbringt, die sich bald an der Front dem echten Kriegsgeschehen stellen müssen. Ehrberg fällt gleich zu Beginn durch einen verirrten Schuss. Der Artillerieoffizier Stolnikow wird bei einem Fliegerangriff so schwer verwundet, dass ihm beide Arme und Beine abgenommen werden müssen. Das „medizinische Wunder“ lebt fortan, von seinem gott-gläubigen Burschen Grigori (Sven Hönig) gepflegt, als gefühlloser „Stumpf“, bis der an seinem Schicksal und der unerfüllbaren Liebe zu Tanjuscha Verzweifelnde sich das Leben nimmt, nicht ohne vorher noch seinen Albtraum von der gleichmachenden Herrschaft der Versehrten herauszubrüllen.

Leser und Theaterbesucher begleiten also nicht nur die beiden Hauptfiguren, sondern auch Freunde und Bekannte der Professorenfamilie wie Onkel Borja (Thomas Eisen), einen Ingenieur und ältesten Sohn des Professors, den in Tanja verliebten Wassja Boltanowski (Lukas Rüpel), einen Schüler des Professors, den Komponisten und Musiklehrer Tanjas, Eduard Lwowitsch (Live-Pianist Thomas Mahn), oder den im zweiten Teil des Romans wie auch der Inszenierung auftretenden Philosophiedozenten Astafjew (wieder Thomas Wodianka) durch die Wirren des Kriegs und der Revolution. Die zunächst noch Unterprivilegierten aus dem Volk sind durch das Hausmädchen des Professors, Dunjascha (Nadja Stübinger), ihren Bruder, den Soldaten Andrej (Betty Freudenberg), und den Fabrikarbeiter Sawalischin (wieder Sven Hönig) vertreten.

Nach der Oktoberrevolution dreht sich die Konstellation um. Der von der Front desertierte Andrej wird Stadtteilkommandeur und rafft Lebensmittel und von der Bourgeoisie requirierte Luxusgüter, während Sawalishin, der von seinem gebildeten Nachbarn Astafjew den zynischen Lebensrat erhält, ein Schwein zu sein, zum Säufer und Strafvollstrecker des seine Feinde liquidierenden neuen Systems wird. Roman und Inszenierung gehen da nicht sehr zimperlich mit den neuen Herrschern um, wie auch diese nicht mit den als Feinden der Sowjetmacht empfundenen kritischen Vertretern des Bürgertums. Ossorgin musste das als früherer Sozialrevolutionär und Mitbegründer eines von Maxim Gorki organisierten Vereins für Hungerhilfe selbst erleben. 1922 wurde er mit zahlreichen weiteren Intellektuellen auf einem sogenannten „Philosophenschiff“ nach Deutschland ausgewiesen.

Beispielhaft durchlebt das hier Romanprotagonist Astawjew, der, nachdem er seinen Posten als Privatdozent verloren hat, erst zu niederen Arbeiten herangezogen, dann ganz zum satirischen Clown wird. Zusammen mit Tanja tritt er für seinen Lebensunterhalt in einem Arbeiterklub auf, was Regisseur Baumgarten für eine Showeinlage mit schmierigem Conférencier (Lukas Rüpel) nutzt, bei der Lusie Aschenbrenner ein französisches Chanson singt und der als Gast erstmals in Dresden spielende Thomas Wodianka den tragikomischen Dada-Clown mimt, bis er verhaftet wird. In seinem Verhörer Brigman (Moritz Kienemann) erkennt Astawjew einen ehemaligen Emigranten und gewendeten Menschwik, der ihn nun zur Mitarbeit werben will. Vor rotem Drachen, der Teil eines sich beständig drehenden Bühnengebildes ist, trifft der die alten Werte gegen mathematische Logik und technischen Fortschritt verteidigende Philosoph schließlich auf seinen Henker Sawalischin.

* *

Sebastian Baumgarten inszeniert das wie immer als bunten Comic, der den Romaninhalt ironisch brechen will. Was zeitweise auch in ziemlichen Klamauk mündet, wenn z.B. der als technischer Entwickler für die Sowjetmacht arbeitende Onkel Borja mit einem Mondfahrzeug außer Landes fliehen will. Auf zwei Videoscreens im Hintergrund laufen als Zeitdokumente originale Filmbilder, die von der russischen Revolution bis in den Kalten Krieg der Systeme führen. In einer Art Rahmen wird die Handlung immer wieder unterbrochen, und ein internationales Filmteam (das bekannte Mosfilm-Symbol prangt auf dem Bühnenturm) resoniert über die Sichtweise auf die historischen Ereignisse und die Möglichkeiten sie in einem heutigen politischen Kontext darzustellen.

Am Ende bringt der Regisseur auch die mögliche Zukunft mit ins Spiel. In einem Finale, das wie willkürlich übriggebliebene Szenen des Romans aneinander reiht, wie etwa die Typhuserkrankung Wassjas und die Begegnung von Wassja und Tanjuscha mit dem fortschrittsgläubigen Ingenieur Protassow. Wobei die SchauspielerInnen in futuristischen Kostümen über die Zukunft und die Liebe philosophieren. So wie auch der Roman die Revolution mit dem Alltag verbindet, zeigt nun die Inszenierung Wassja und Tanjuscha bei ihrer Butterfahrt in die Moskauer Wälder wie ein heutiges, über alltägliche Dinge streitendes Paar im Auto. Da gehen die Regieeinfälle wieder etwas mit Sebastian Baumgarten durch, der hier nur noch das den Roman nicht kennende Publikum verwirrt. Die Antwort Protassows (Thomas Eisen) auf die Frage des Professors im letzten Kapitel des Romans, ob das Leben leichter oder schwerer würde, lautet: „Ich glaube, Herr Professor, dass unser Leben komplizierter sein wird.“ Aus heutiger Sicht muss man das wohl eine Binsenwahrheit nennen.
Stefan Bock - 1. Mai 2019
ID 11383
EINE STRASSE IN MOSKAU (30.04.2019, Staatsschauspiel Dresden)
Regie: Sebastian Baumgarten
Bühne und Kostüme: Christina Schmidt
Musik: Stefan Schneider
Video/Film: Philipp Haupt
Licht: Andreas Barkleit
Dramaturgie: Jörg Bochow
Besetzung:
Tanja ... Luise Aschenbrenner
Professor Iwan Alexandrowitsch / Denissow ... Holger Hübner
Wassja / Offizier / N („Dserschinski“) ... Lukas Rüppel
Dunja / Präsidentin / Sawinkow ... Nadja Stübiger
Andrej / Offizier / Anna Klimowna ... Betty Freudenberg
Ehrberg / Astafjew ... Thomas Wodianka
Stolnikow / Brikman ... Moritz Kienemann
Onkel Borja / Offizier / Kaschtanow / Protassow ... Thomas Eisen
Grigori Sawalischin / Stimme ... Sven Hönig
Pianist Eduard Lwowitsch ... Thomas Mahn
Uraufführung war am 5. April 2019.
Weitere Termine: 12.05. / 11.06.2019


Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsschauspiel-dresden.de/


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