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abgrund

von Maja Zade


Maja Zades abgrund an der Schaubühne Berlin | Foto (C) Arno Declair

Bewertung:    



„Ob sich das Wasser mithilfe von bunten Kristallen an seinen ursprünglichen Zustand erinnern kann, ob Tapeten die Wände zusammenhalten, ob es »Flüchtlinge« oder »Geflüchtete« heißt, ob man mit einer Hochzeit die anderen ausgrenzt, ob man als Hundebesitzerin leichter schwanger wird, ob in einer offenen Beziehung immer einer leidet und es daneben ist, wenn man auf einer Party eine Jogginghose trägt, wo man Dinkel kauft und wo Lavendel, ob ein Sabbat-Dinner für Atheisten ein Erlebnis ist, ob die Trüffelsuppe mundet, der Wein im Abgang nach Stachelbeere schmeckt und das Fleisch zart ist, ob die alptraumhafte, kannibalische Filmszene wirklich schon wieder nacherzählt werden muss, ob man heute noch oder wieder »prima« sagen kann: Beim Abendessen von Bettina und Matthias wird mit den Freundinnen und Freunden jedes Thema, ob wichtig oder unwichtig, diskutiert, während im Nebenzimmer die kleine Tochter Pia und das Baby Gertrud friedlich wie Engel schlafen…“ (Text: Schaubühne Berlin)

*

Die Autorin und langjährige Schaubühnendramaturgin Maja Zade geizt in ihrem zweiten Stück in dieser Spielzeit am Lehniner Platz nicht mit Klischees über die sich aufgeklärt und gebildet gebende Mittelschicht, wie man sie in Berliner In-Stadtbezirken wie Prenzlauer Berg oder Friedrichshain antrifft. Nach status quo, einer flotten Gendercross-Komödie, in der Zade mal den Spieß umdrehte und Männer in mehreren Konstellationen unter einem Frauenkommando leiden mussten, führt ihr neues Stück abgrund in die weiß geflieste Wohnküche eines Paars aus besagtem linksliberalen Neubürgertum, das sich vier Freunde zum Abendessen eingeladen hat. Dabei lauert zwar noch lange kein richtiger Abgrund, auch wenn Hausherr Matthias (Christoph Gawenda) den schon in den Augen eines jeden erkennen will, wie er beim lockeren Small Talk behauptet. Etwas abgründig scheinen hier nur die zuweilen zynischen Phrasen der Partygäste, die sich gegenseitig in geistreichen Geschichten und Bemerkungen überbieten wollen, als gelte es einen Wettbewerb zu gewinnen.

Auch Intendant und Uraufführungsregisseur Thomas Ostermeier spricht in einem Interview auf der Website der Schaubühne von einem Wettbewerb. Früher ging es dem Bürgertum um materielle Statussymbole, heute sind diese Zeichen der Zugehörigkeit eben, wo man richtig einkauft, wie man Sachen richtig nennt oder wen man kritisiert und wen nicht. Wird dieser Wettbewerb wichtiger als echte zwischenmenschliche Beziehungen und Probleme, dann leidet darunter zwangsläufig die Fähigkeit zur Empathie mit den anderen. Und so zerreißt man sich auch hier zu Tisch das Maul über andere Leute und spielt Bullshit-Bingo mit Begriffen zu Themen wie Manufactum, Osteopathie, Brandenburg, Nazis, Religion oder offene Beziehung.

Es geht um Leute, die in ihren banalen Scheindebatten den Bezug zur Realität verloren haben. Die sich über kulturelles Wissen, Geschmack, Kultiviertheit und Kaufkraft definieren und dadurch von anderen abgrenzen. Im Programmheft gibt es einen passenden Artikel von Cornelia Koppetsch dazu. In Die Wiederkehr der Konformität schreibt sie über das sogenannte „Bionade-Biedermeier“ im Prenzlauer-Berg-Ghetto des neuen Bürgertums. Sie haben zu allem eine Meinung, mit der sie im passenden Moment nicht hinterm Berg halten können. Wer nicht dazugehört, wird vielleicht gerade noch bedauert oder - wie peinlich ist das denn - der Lächerlichkeit preisgegeben.

Maja Zade hat nach eigener Aussage solche Gespräche bei Einladungen zu Abendessen im eigenen Bekanntenkreis abgelauscht und in einem Redefluss von sechs oder weniger Personen niedergeschrieben. Das heißt, die Rollenzuschreibungen sind hie frei wähl- und austauschbar. Thomas Ostermeier hat sich für das Gastgebepaar Bettina (Jenny König) und Matthias entschieden, die um die Single-Frau Anna (Isabelle Redfern), den schwulen Künstler Mark (Laurenz Laufenberg) und das kinderlose Paar Stefan (Moritz Gottwald) und Sabine (Alina Stiegler) ergänzt werden. Ein Defilee der Selbstdarsteller an langer Edelstahlküchenzeile (Bühne und Kostüme: Nina Wetzel).

Die Männer kommen hier insgesamt etwas schlechter weg. Sie fallen den anderen ins Wort, geben den Erklärbär oder großen Anekdotenerzähler. Regisseur Ostermeier sperrt das gesamte Personal zumeist hinter einen Gazevorhang. Der Ton wird über Mikroports in effektvoller Stereophonie auf Kopfhörer übertragen. Das Publikum ist so einerseits ganz nah dran und doch auch weiter räumlich ausgeschlossen. Durch kurze an die Rückwand projizierte Zwischentitel wie „küche“, „heteros“, „zombie“, „nichts“ oder „prost“ werden die einzelnen Szenen voneinander getrennt. Wie ein roter Faden zieht sich aber das Kinderzimmer durch Stück und Inszenierung. Auch die Gespräche kommen immer mal wieder auf dieses Thema. Am Kindbett beteuern alle, wie süß doch die Kleine wäre. Die Mutter schwärmt geradezu davon, wie sie riecht. Das Kinderzimmer wird per Videogroßaufnahme mit dem klischeeaufgeladenen Setting des Abendessens überschnitten.

Und dann geschieht das Unfassbare. Eins der süßen, eben noch schlafenden Kinder hat das andere wie einen unliebsamen Konkurrenten aus dem Fenster geworfen. Das ist ein zugegebener Maßen recht brutaler Kurzschluss des zunächst so unschuldig wirkenden Kinderzimmeridylls zum geschwätzigen Dinner. Begreifen kann man so eine Tat in der Realität sicher nicht. Ostermeier beginnt nun in den Zeiten vor und zurückzuspringen, lässt ganze Szenen rückwärts laufen oder Satzphrasen wiederholen. Hier dient das Unglück, der sich auftuende Abgrund als Metapher für das Fehlen von Empathie. Und auch die Gespräche der restlichen Gäste gehen danach sofort in eine aberwitzige Analyse anstatt den Eltern vorbehaltlos beizustehen. Man wertet, wo man doch echte Anteilnahme zeigen sollte. Und das nicht aus Unfähigkeit das Schreckliche zu begreifen, sondern aus der kompletten Ichbezogenheit heraus, die sich den ganzen Abend über zeigt. Ein Paar fällt hier ohne Wenn und Aber aus der Gemeinschaft und der Gewissheit absoluter Sicherheit. Die tragische Fallhöhe beträgt genau drei Stockwerke, um auf dem harten Pflaster der Realität anzukommen. Viel mehr Höhe oder Tiefe braucht es nicht. Das hier gezeigte, zu tiefst erschütternde Ergebnis würde das nicht wesentlich beeinflussen.




Maja Zades abgrund an der Schaubühne Berlin | Foto (C) Arno Declair

Stefan Bock - 4. April 2019
ID 11328
ABGRUND (Schaubühne am Lehniner Platz, 02.04.2019)
Regie: Thomas Ostermeier
Bühne und Kostüme: Nina Wetzel
Video: Sébastien Dupouey
Musik: Nils Ostendorf
Sounddesign: Jochen Jezussek
Dramaturgie: Maja Zade
Licht: Erich Schneider
Mit: Christoph Gawenda, Moritz Gottwald, Jenny König, Laurenz Laufenberg, Isabelle Redfern und Alina Stiegler sowie Tabea Fromholz, Lucy Kip und Nele Richter
Uraufführung war am 2. April 2019.
Weitere Termine: 04., 19., 21., 22.04. / 09., 28., 29., 30.05.2019


Weitere Infos siehe auch: https://www.schaubuehne.de


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