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nachDRUCK # 6

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Repertoire

Familiendrama und

Geistespsychosen



Gespenster oder Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken am Schauspiel Leipzig | Foto (C) Rolf Arnold

Bewertung:    



Die Ibsenbegeisterung an deutschen Theatern scheint nicht abzureißen. In letzter Zeit sind dem norwegischen Dramatiker sogar ganze Ibsenhäuser gebaut worden. Eines davon [Ibsen Huis] stand beim FIND in der Berliner Schaubühne, ein anderes (ursprünglich im sog. Nationaltheater Reinickendorf beheimatet) konnte der Einladung zum Berliner Theatertreffen aufgrund anderweitiger Termine nicht folgen. Henrik Ibsens Gespenster also aller Orten - und nun auch am Schauspiel Leipzig.

Dort hat der Leipziger Hausregisseur Philipp Preuss (in Berlin auch an der Schaubühne tätig) das Familiendrama in drei Akten mit Texten von Daniel Paul Schreber (1842-1911), Sohn des „schwarzen“ Pädagogen und Namensgeber der deutschen Schrebergärtenbewegung Daniel Moritz Schreber, verbunden:

Gespenster oder Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken heißt diese dreistündige Inszenierung, die schon im Titel die Verbindung offenbart. Wie Sohn Osvald Alving in Ibsens Theaterstück an vererbter Gehirnerweichung, litt auch Daniel Paul Schreber an einem psychotischen Nervenleiden, das bekannte Psychoanalytiker wie C.G. Jung und Sigmund Freud auf dessen traumatische Beziehungen zu seinem Vater zurückführten. Zwar sind diese nicht, wie in Ibsens Stück behauptet, vererbt, aber vermutlich schon auch den pädagogischen Zurichtungsmaßnahmen des Vaters zuzuschreiben.

Die Familie Schreber stammt aus Leipzig, was dem norwegischen Drama um verdrängte Familiengeheimnisse ein wenig lokale Verortung beschert, aber auch sonst ist die Verbindung durchaus interessant, zumal der zuvor als Senatspräsident am Oberlandesgericht Dresden arbeitende Jurist Schreber über Jahre seine verschiedenen psychotischen Schübe in der 1903 erschienen Abhandlung Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken detailreich beschrieben hat. Auszüge aus dieser Schrift rahmen die Ibsenhandlung und ergänzen die düsteren Gemütszustände des an einer merkwürdigen Krankheit des Geistes leidenden Maler Osvald um eine präzise Innenschau.

Regisseur Philipp Preuss lässt das Ganze in einem auf der Drehbühne angeordneten, aus vier gleichgestalteten Saloninnenräumen bestehenden, fast naturalistischen Bühnenbild hinter einem Gazevorhang spielen. Die Einführung erfolgt mit ersten Schreber-Zitaten zu dessen sinistrer Gedankenwelt. Eine Art philosophisches Weltbild über die Zusammenhänge von Gott, Seele, Nerven und Tod. Die Seele des Menschen befinde sich laut Schreber in den Nerven, über die Gott mit ihm und anderen Wesen kommuniziere. Schreber hatte rege Wahnvorstellungen, hörte Stimmen, die ihm eine recht esoterisch anmutende Weltordnung offenbarten, an die er glaubte und in deren Mittelpunkt er sich fühlte. Für die damalige Psychiatrie und Psychoanalyse ein gefundenes Fressen. Besonders Sigmund Freud belegte am Fall Schreber seine psychoanalytischen Thesen, was bis heute in Fachkreisen kontrovers diskutiert wird. Zumindest recht finster sind Schrebers Visionen über ein zweigeteiltes Gottesreich mit einer unteren semitischen und oberen arischen Gottheit.

Heute würde man das unter der Rubrik Verschwörungstheorien ablegen. Das ist aber hier nicht das vorrangige Thema, wenn die Inszenierung diese Visionen auch kurz streift. Der Link von Schreber junior zu Ibsens Osvald ergibt sich über die Sätze des Arztes, die der junge Alving zur Ursache seiner geistigen Zerrüttung im Stück wiedergibt: „Da ist von ihrer Geburt an etwas Wurmstichiges in ihnen. (…) Die Sünden der Väter werden heimgesucht an ihren Kindern.“ Die These der Vererbung ist zwar heute widerlegt, jedoch die Worte der Mutter Helene zu Pastor Manders: „...wir sind allesamt Gespenster, Pastor Manders. Es ist ja nicht nur, was wir von Vater und Mutter geerbt haben, das in uns herumgeistert; auch alte, abgestorbene Meinungen aller Art, alte, abgestorbene Überzeugungen und ähnliches. Sie sind nicht lebendig in uns; aber sie sitzen doch in uns fest, und wir können sie nicht loswerden.“ Dazu bräuchte es zwar nicht unbedingt der Schreber'schen Beglaubigung, aber als Bilder gebendes Gestaltungsmittel und Ausdruck unterbewusst reflektierter, starrer protestantischer Moralerziehung machen sich dessen Wahnvorstellungen in der Inszenierung sehr gut.

Preuss lässt in den Ibsenszenen den Plot um den Bau eines Waisenheims zur Verwischung des amoralischen Lebenswandels des alten Alving, der mit seinem Dienstmädchen ein uneheliches Kind zeugte, recht werkgetreu spielen. Jene Regine (Julia Preuß) lebt nun im Haushalt der Alvings. Der heimgekehrte Sohn Osvald (Felix Axel Preißler) hat ein Auge auf sie geworfen, was dessen Mutter Helene (Anna Keil) die Gespenster der Vergangenheit in ihnen sehen lässt. Tischler Engstrand (Tilo Krügel), der Helene gegen Geld als sein Kind angenommen hat, versucht aus seinem Wissen Kapital für ein Seemannsheim zu schlagen, während Pastor Manders (Markus Lerch) im schwarzen Talar den bigotten Verdränger der Schuld und Erhalter der alten Moralvorstellungen gibt.

In den gemeinsamen Gesprächen zucken alle in slapstickartigen Turnübungen, wie um einerseits den von Schreber senior propagierten Bewegungszwang zu karikieren, anderseits aber auch die inneren Verrenkung der Figuren sichtbar zu machen. Der stete Wiederholungszwang alter Verhaltensmuster drückt sich auch in einer loopartigen Szene aus, in der bei drehender Bühne durch Helene und Osvald immer neue Champagnerflaschen geöffnet werden. Mit Andreas Keller und Denis Petković verdreifacht Regisseur Preuss schließlich sogar die Figur des Osvald. Maskentragend agieren sie wie der ewig anwesende Geist des alten Alving. Zusammen mit der hochintensiven Musik des live spielenden Levitation String Ensemble [Namen s.u.]verdichtet sich der Abend zu einem düsteren Gesellschaftsbild. Nachdem der Brand des Kinderheims bekannt wird und Rauch die Bühne vernebelt, singen alle im Chor „Relex, it’s only a ghost, Relax, try to be it's host“ von Phantom/Ghost.

Mit seinen Denkwürdigkeiten ist es Daniel Paul Schreber zumindest ansatzweise gelungen, sich seinen inneren Geistern zu stellen. Wie um ins dunkle Innere ihres Sohns Osvalds vorzudringen, versucht Helene Alving nach der Pause in einen riesigen Ballon, auf den dessen Gesicht projiziert wird, hineinzukriechen. Zu Schrebers Sonnenkult- und Naturvisionen legt das Ensemble Riemen und Gurte aus Moritz Schrebers Gruselkabinett der Körperertüchtigung an Gliedmaßen und Gesichter an. Sie imitieren dabei die Stimmen verschiedenster Vögel, die sich Sohn Schreber in seinen Wahnvorstellungen offenbarten. Der Schrei der verwirrten Seele, in dem sich für Elias Canetti und Walter Benjamin auch die Krise des 20. Jahrhunderts mit all ihren Katastrophen wiederspiegelte.



Gespenster oder Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken am Schauspiel Leipzig | Foto (C) Rolf Arnold

Stefan Bock - 6. Mai 2018
ID 10684
GESPENSTER ODER DENKWÜRDIGKEITEN EINES NERVENKRANKEN(Schauspiel Leipzig, 04.05.2018)
Regie: Philipp Preuss
Bühne & Kostüme: Ramallah Aubrecht
Live-Video: Konny Keller
Musik: Kornelius Heidebrecht
Dramaturgie: Christin Ihle
Licht: Carsten Rüger
Besetzung:
Ellen Hellwig (Helenes Mutter)
Anna Keil (Frau Helene Alving)
Andreas Keller (Osvald³)
Tilo Krügel (Tischler Engstrand)
Markus Lerch (Pastor Manders)
Denis Petković (Osvald³)
Felix Axel Preißler (Osvald)
Julia Preuß (Regine Engstrand)
Stefanie Bühler, Tara Horvat, Inara Jumabekova, Philipp Rohmer und Anne-Sarah Schmitt (= Levitation String Ensemble)
Premiere war am 31. März 2018.
Weitere Termine: 12., 30.05. / 09.06.2018


Weitere Infos siehe auch: http://www.schauspiel-leipzig.de/


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