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Premierenkritik

Kopflos



Juditha Triumphans an der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Martin Sigmund

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Man entgeht ihnen nicht. Die vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi gehören, nicht nur an seinem Geburtsort Venedig, ohne Zweifel zu den populärsten Werken der Musikgeschichte. Seine vermutlich knapp hundert Opern aber, von denen rund die Hälfte authentifiziert wurden, machen sich auf den deutschen Spielplänen, anders als die Opern seines Zeitgenossen Händel, rar. Jetzt hat sich der Stuttgarter Intendant Viktor Schoner, stets gut für Überraschungen, nicht etwa für eine dieser Opern entschieden, sondern für eine szenische Aufführung von Vivaldis einzigem Oratorium Juditha triumphans devicta Holofernis barbarie, deutsch: "Die über die Barbarei des Holofernes triumphierende Judith" oder, wieder lateinisch, kurz Juditha triumphans. Das Libretto von Iacopo Cassetti folgt dem alttestamentarischen Buch Judit und wirkt heute, wie die meisten barocken Opernlibretti und im Gegensatz zu den hundert Jahre älteren Dramen Shakespeares, ziemlich verstaubt. Als frühes Exempel emanzipatorischer Dichtung lässt es sich kaum instrumentalisieren. Und mit seinen zahlreichen Wiederholungen stellt es für eine Inszenierung eine Herausforderung dar.

Gestern im Schauspiel die verschleierte Eloge auf die Pädophilie (Zeus schnappt sich mit Hilfe eines Adlers den schönen Knaben Ganymed), heute die Rechtfertigung der letalen Selbstjustiz durch eine Frau: zum Glück haben die Saubermänner und -frauen unserer prüden Gegenwart noch nicht entdeckt, was sich hinter der Verkleidung antiker Mythen und biblischer Legenden an Sittenlosigkeit verbirgt. Ansonsten hätten sie wohl längst die Museen und die kirchlichen Buchhandlungen, vielleicht sogar die Betstühle in den Gottes- und Göttinnenhäusern gestürmt. Nur die Unbildung der Nachfolger Savonarolas schützt uns vor dem Vandalismus. Hoffen wir, dass sie nicht ins Theater und in die Oper gehen und auf Ideen kommen.

Gebilligt wird der Mord an Holofernes, weil er ein Barbar ist. Das reicht in der europäischen Tradition seit je für die Rechtfertigung von ansonsten verdammten Untaten. Man mag Judith das Recht der Selbstverteidigung zusprechen. Ob es hier greift, ist ebenso fragwürdig wie in unzähligen Western oder im wirklichen juristischen Alltag. Genauer besehen ist der Mord an einem Schlafenden heimtückisch und allenfalls gerechtfertigt, wenn der Zweck das Mittel heiligt. In der Fassung von Vivaldi und Cassetti tut Holofernes Judith nichts Böses an. Dass er ein Tyrann war, bleibt Behauptung ohne Nachweis.

Aber das interessiert die Regisseurin Silvia Costa erst gegen Ende und eher marginal. Sie eröffnet mit einem Oratorium als Oper als Musical. Alles auf der Bühne ist weiß mit einer ausgeprägten Neigung zur Symmetrie. Gesungen wird meist frontal zum Publikum. Die Assyrer schwingen rote Fahnen, als seien sie dem Roten Frauenbataillon entsprungen. Die Choreographien dieser Inszenierung sind, sprechen wir es aus, von bedrückender Einfalt.

Ein Pentagramm, auch Drudenstern, leuchtet mehrfach auf oder senkt sich vor die eingekleidete und verschleierte Judith. An einer Stelle werden Gewehre vor den Stern gehalten: das Symbol der RAF. Eine gewagte und nicht sehr stimmige Assoziation.

Im zweiten Teil, nach der Pause, changieren die Farben auf der Bühne zu rot-weiß. Eine überdimensionale kopflose Statue stürzt vom Sockel. Ist es Stalin? Oder Saddam Hussein? Die Regie lässt die einzelnen Chormitglieder zu lebenden Bildern erstarren und diese wieder auflösen.

Nachdem Judith den Kopf des Holofernes von seinem Körper getrennt hat, wird er ihr nach dem Willen der Regie aufgesetzt, und sie wird mit zwei Sauerstoffflaschen verkabelt. Kurz vor dem Ende nimmt Judith den Kopf des Holofernes ab. Beide, Judith und der geköpfte Holofernes, werden von der Bühne geleitet. Es folgt ein großes Reinemachen. Vielleicht will uns Silvia Costa damit sagen, dass die Frau, die auf einem zerschnittenen Transparent zuvor vom Mann separiert wurde, durch die grausame Tat des Tötens zu einem Double des Mannes wird. Dass sie ihn sich mit seinem Blut einverleibt, wird von Judith selbst an einer anderen Stelle ausgesprochen. Elias Canetti hat diesen Gedanken in Masse und Macht ausgeführt. Hier immerhin gibt es einen Bezug zu aktuellen Debatten. In der Aufführung allerdings kommt er unvermittelt.

Alle Rollen, auch die Kontraltos, werden in Stuttgart wie bei der Uraufführung von Frauen gesungen. Aus dem Ensemble sticht die famose Diana Haller in der Rolle des Vagaus heraus. Das Premierenpublikum honoriert ihre erwartbare Leistung im differenzierten Schlussapplaus. Das Staatsorchester Stuttgart, ausgerüstet mit alten Instrumenten, bleibt leider, unter der Leitung von Benjamin Bayl, hinter seinen Möglichkeiten zurück. Die Musik schleppt sich über weite Strecken, bleibt dynamisch in einer starren Mittellage. Dennoch: auf sie wollen wir nicht verzichten. Das Bühnengeschehen? Nun ja. Vielleicht hat Vivaldi gewusst, warum er aus dem Stoff ein Oratorium und nicht eine Oper gemacht hat. Andererseits: dass solch eine Gattungstransformation klappen kann, haben beispielsweise Peter Sellars oder Claus Guth bewiesen. Es kommt immer auf das Wie an.



Juditha Triumphans an der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Martin Sigmund

Thomas Rothschild - 17. Januar 2022
ID 13405
JUDITHA TRIUMPHANS (Staatsoper Stuttgart, 16.01.2022)
Musikalische Leitung: Benjamin Bayl
Regie & Bühne: Silvia Costa
Kostüme: Laura Dondoli
Licht: Bernd Purkrabek
Chor: Bernhard Moncado
Dramaturgie: Franz-Erdmann Meyer-Herder und Antonio Cuenca Ruiz
Besetzung:
Juditha ... Rachael Wilson
Holofernes ... Stine Marie Fischer
Vagaus ... Diana Haller
Abra ... Gaia Petrone
Ozias ... Linsey Coppens
Mitglieder des Staatsopernchores
Musiker*innen des Staatsorchesters Stuttgart
Premiere war am 16. Januar 2022.
Weitere Termine: 19., 22.01. / 11.02. / 06., 10., 12.03.2022


Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsoper-stuttgart.de/


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