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BAROCKTAGE 2021 an der Staatsoper Unter den Linden

Das Drama

fand mal

wieder nur

in der Musik

statt

IDOMÉNÉE von
André Campra (1660-1744)


Tassis Christoyannis als Idoménée - an der Staatsoper Unter den Linden | Foto (C) Simon Gosselin

Bewertung:    



Als sich 1981 zum ersten Mal der Staatsopernvorhang über dem Opernschicksal des Königs Idomeneus senkte, hatte Ruth Berghaus mit ihrer gestisch ausgefeilten Personenregie eine ebenso erstaunliche wie sensationell durch-choreografierte Inszenierung der Kulturwelt geschenkt, deren Bilder und Vorgänge noch heute avantgardistisch und herausfordernd wirken könnten. Ja, wenn sie nicht von der westlichen Welt ignoriert worden wären (oder die östliche sie filmisch zumindest dokumentiert hätte)! Die vollständigen Koloraturen der Titelpartie in Mozarts Idomeneo sang Eberhard Büchner so dramatisch und doch strahlend leicht, wie damals niemand auf dem Globus (Pavarotti sang zeitgleich an der Met die Version ohne Koloraturen) – und am Dirigentenpult hatte Peter Schreier gestanden: nicht zu vergessen die Gesamtausstattung von Marie-Luise Strandt, surreal inspiriert bis in die Ästhetik von Kostümen, Requisiten und Make-up. Ein flexibles Meerungeheuer überflog die Bühne, die in der Szene des Seesturmes mit zwei in Gegenbewegungen hoch- und runter fahrenden Hebebühnen über die ganze Bühnenbreite die Wogen des Meeres anzeigte, auf denen in der Ferne der Chor der kretischen Krieger im Wechsel mit dem Chor der am Ufer auf sie Wartenden seine Klagen ausstieß… In der folgenden Willkommensszene (wo es an der Met bei Ponelle lauter zeremoniellen Jubel gab) wurde die Tragödie des Krieges durch eine erschütternde Chorregie der Marxistin Berghaus zu einem ergreifend eindringlichen Spiel über das Schicksal der Nicht-Heimkehrer, wie der Allein-Zurück-Bleibenden, Vereinzelnden. Und zum Glücklichen Ende, dem Lieto fine jeder Opera seria, das der Deus ex machina verkündet, fuhr gar der gesamte Bühnenbau mit einem Ruck buchstäblich aus den Fugen. Starke Momente, sinnhafte Theaterkunst, was für ein Können aller!

*

Nun also genau dreißig Jahre später auf derselben Bühne endlich auch der Idoménée des französische Barockkomponisten André Campra (1660-1744)! An Ruth Berghaus musste Schreiber dieses freilich wieder denken, als Dirigentin Emmanuelle Haïm, ebenfalls eine hart arbeitende Perfektionistin, in der Sonntagsmatinee das Werk erläuterte und eben auf Zusammenhänge und Unterschiede dieser Tragédie lyrique zu Mozarts späterer Oper einging. Der nämlich arbeitete für die italienische Adaption den Text von Campras Oper mit seinem Librettisten um. Der dreiaktigen Struktur zugunsten wurde das französische Schema der fünf Akte mit Prolog aufgegeben. Die Götterebene war nicht mehr üblich (es gab keinen Zentralstaat), auch die erotische Rivalität zwischen König und Prinz fiel weg und am Ende siegen Gnade und Versöhnung.

Natürlich betonte Haïm den für die Opernepoche hingegen einmaligen Fall eines tragisch-abrupten Endes bei Campra. Ein derartiges Wagnis war den Autoren nur möglich, weil der Sonnenkönig längst in Agonie hinsiechte (ein Jahr nach Idoménée wird Ludwig sterben), er, der einst Fenelons Telemach verboten hatte, ein Roman, in dem die Königsfigur des Idomeneus zum ersten Mal mit dem Opferschwur verbunden und im Rahmen von Herrschaftsaufklärung kritisiert wird.

Der König von Kreta segelt siegreich von der Eroberung Trojas heim. Doch die Göttin Vénus will Troja rächen. Sie ruft den Meeresgott Neptun auf, die Flotte im Sturm zu vernichten. In seiner Not schwört Idoménée, wenn er lebend den Strand erreiche, den ersten Menschen, der ihm begegnet, Neptun zu opfern. Der Erste ist sein Sohn Idamante. Der hat bereits die trojanische Königstochter Ilione aus dem Schiffbruch gerettet und beide sind ineinander verliebt. Nur liebt auch Idoménée längst die Ilione, ist sie doch seine Kriegstrophäe. Idoménée hadert in solchem Dilemma und verschweigt allen sein Gelübde. Am Hof von Kreta lebt eine andere Königstochter, Électre, im Exil, sie gleichfalls liebt Idamante, doch unglücklich. So fleht sie Vénus um Hilfe an, die wiederum die Eifersucht beschwört, mit ihren Dämonen Électre zu rächen. Indessen kommen Idoménée und sein Berater auf die glorreiche Idee, Idamante mit Électre zu vermählen und das Paar in Électres Heimat zurück zu schicken. Alles feiert den Abschied – doch Neptun sendet ein Ungeheuer, das mit neuen Katastrophen die Abreise verhindert. Idoménée gesteht noch immer nicht, in was er sich verstrickte, versucht vielmehr, Iliones Herz zu gewinnen, was misslingt. Als er das begreift, wird eine neue Finte ersonnen: er will abdanken und seinem Sohn Krone und Ilione überlassen. So hofft er, das Opfer zu vermeiden. Doch mitten im glücklichen Festakt erscheint Némésis, die Göttin der Rache selbst, sie mahnt den Schwur an, der Neptun geleistet wurde. Idoménée befällt Wahnsinn und er ersticht seinen Sohn. Als er wieder zu Sinnen kommt und sieht, was er tat, will er sich selbst töten, doch Ilione entwendet ihm den Dolch: seine Strafe sei, mit der Schuld weiter leben zu müssen. Kein Chor, keine Arie, kein Ausklang, Schluss. Das Publikum geht mit den offenen Fragen auf die Straße, in Paris, im 18. Jahrhundert.

Noch nie zuvor hatte es eine französische Barockoper in der Berliner Staatsoper gegeben (allerdings vor 1981 auch noch nie Mozarts Idomeneo). Die seltsame Enthaltung in Deutschland gegenüber diesem Repertoire mag sich aus der romantischen Tradition erklären, aber auch aus der enormen Sprachorientierung der hochartifiziellen Gesangspartien und ihren speziellen Anforderungen – bishin zur Gesangstechnik der Hâute-contre – also extrem hoher Tenöre (keinesfalls zu verwechseln mit „Countertenören“!). Umso verdienstvoller ist die Wahl der Organisatoren und Künstler, endlich ein großartiges Werk dieser Gattung Unter den Linden zu präsentieren. Diese Wahl hat sich, zumindest musikalisch, gelohnt! Immerhin stand mit Emmanuelle Haïm eine wahre Botschafterin französischer Musiktradition und insbesondere der Barockkultur dem Ensemble vor. Haïm, bekannt auch in Berlin seit Jahren nicht nur durch ihre vielen exzellenten CD-Aufnahmen, sondern ist hier schon öfter aufgetreten, um mit Le Concert d‘Astrée (u.a. Sakralmusik von Campra) oder mit den Philharmonikern Begeisterungsstürme zu wecken. Die Erwartungen waren hoch, die Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Denn Haïm blieb mit all den ihren – Orchester UND Chor – keinen Aspekt der farbigen Partitur schuldig, von Empfindsamkeit bis Pracht, von rasender Dramatik bis Pathos, jede Nuance erklingt unter ihren Händen voller Energie und Explosivität, manchmal vielleicht fast zu perfekt. Schon nach der Pause wurden Haïm und ihr Sternen-Konzert mit Jubel begrüßt!

Was die Solistenschar betrifft, so ist man nicht ganz so uneingeschränkt begeistert, denn anders als die wie gewohnt rundum überzeugende Mezzosopranistin Eva Zaïcik in der Partie der Vénus, waren die Soprane von Chiara Skerath (Ilione) und Hélène Carpentier (Èlectre) mitunter recht scharf in den Höhen, ließen manch schmelzende Süße vermissen, vielleicht aber ist das Haus einfach zu groß für diese Art filigraner Musik, die dennoch der Kraft bedarf. Gleich zu Anfang konnte Yoann Dubruque (Éole, dann Neptune) insofern mit seinem allzu schwachen Bass kaum überzeugen, als Windgott den rebellischen Dämonen dank machtvoller Stimme Einhalt zu gebieten. In der Titelpartie faszinierte der Athener Tassis Christoyannis in reich schattierter Ausdrucksfülle als Sängerdarsteller des Idoménée, und man ahnt, was diesem Künstler noch alles bis zum Tragischen möglich gewesen wäre, wenn es ihm die Regie vergönnt hätte. Als Idamante führte Samuel Boden seine schöne Stimme mit souveräner Agilität, für die Figur des Prinzen mangelte ihm solche. Enorm beeindruckend der durchweg klangschön singende Chor, dessen Aufgaben sehr vielfältig und komplex sind, wie die Soli von Cécilde Dalmon und Cécile Granger als Hirtinnen-Duo, begleitet von Vincent Robin mit der Musette. Triumphal allerdings gelang dem jungen Bariton Victor Sicard mit überragender Stilsicherheit ein fulminanter Auftritt als La Jalousie (der Eifersucht) und er führte den Abend zu dem absolut mitreißenden Höhepunkt.

* *

Nein, es war nicht „die überhaupt erste“ moderne Inszenierung seit Mitte des 18.Jahrhunderts, sondern, wie das lesenswerte Programmbuch erhellt, die vierte – hoffentlich aber nicht die letzte. Von der spektakulär impressiven Inszenierungskunst einer Ruth Berghaus ließ sich in dieser Neuproduktion von Campras Idoménée mit ihren schnell verpuffenden Effekten wohlfeiler Videoprojektionen, endlosem Herumstehen und Arme-Ausbreiten, verwirrenden Pseudosymbolen, unklaren Vorgängen, konventionellen Chorarrangements in geometrischer Aufstellung, undeutlichen Situationen, wiederholenden Show-Tanzzitaten (kein noch so entfernter Vergleich zu dem sublimen Hip-Hop-Artefakt, den Bintou Dembél in Paris zu Rameaus Les Indes Galantes kreierte!), bei all den banal-einfallslosen Kostümen und allerunglaubwürdigsten „Liebes“-Szenen bis hin zum verschenkten Kulminationspunkt der Sohnestötung allerdings nur bis zur Schläfrigkeit träumen.

Von einem weiteren, artifiziell außerordentlich hochstehenden Idomeneo (2003) in Berlin kannte man schon die Idee der Verdoppelung von Opernfiguren, mit der Hans Neuenfels seine filigrane und sinnige Inszenierung bereichernd vertieft hatte. Was hingegen die Regie an Campras Idoménée außer dem Stück und der Musik überhaupt nicht verstanden hatte, war der Sinn des Ganzen, obwohl die Protagonisten immer wieder davon reden: ja, das Drama vom feigen König Idomeneus ist ein politisches Stück, was sonst? Es ist keine (klein)bürgerliche Familienaffäre, es geht nicht um Privat-, sondern um Staatsangelegenheiten, denen mit mundgerechtem Naturalismus nicht beizukommen ist. Denn erst Kunst hat mehrere Ebenen, sie verweisen aufeinander, es geht metaphorisch zu. Nur: lesen und aufschlüsseln muss man das, dann brauchen der Parabel nicht bloß selbstreferentielle „Aktualisierungen“ extra aufgepropft zu werden. Götter sind Gleichnisse und bedeuten etwas, die Königsebene bedeutet etwas. Das lässt sich ohne Sinnverlust nicht ignorieren. Es geht um Schuld, um Leugnung und Verantwortung, das scheint, wie der König, niemand wahr genommen zu haben. Das Motto des Ganzen steht sehr wohl im Text (nur man hat es nicht gelesen): „Um das Regieren zu lernen, beginne, die Unterstützung der Unglücklichen zu erlangen.“ (III,7)

Aus dem historischen Moment der Entstehung wäre die Aktualität am erhellendsten zu gewinnen gewesen. Warum obendrein die Geschichte nicht nur in unterdrückte Seelenlandschaften, sondern noch in die Zwanziger Jahre verschoben wird, abgegriffene Erotik-Klischees strapazierend, bleibt schleierhaft. Der verklemmten Bourgeoisie fällt zwangsläufig zu mediterraner Götternähe nur eine katholische Priesterprozessionen ein, die ihre Kerzen durchs Dunkel trägt. Klar, stets wo man das Politische und Gesellschaftliche partout ausblendet, wird als Rettungsnotdienst Psychologie bemüht, bis aller Sinn darin versumpft. Das Drama fand wieder einmal nur in der Musik statt.

Am Ende hielten wach – und triumphierten vor allem: der grandiose Tassis Christoyannis in der Titelpartie, Victor Sicard, Sänger der Eifersucht und der Némésis, Emmanuelle Haïm mit dem brillierenden Concert d‘Astrée – und also André Campra!



Hélène Carpentier (als Électre) in Idoménée von André Campra - an der Staatsoper Unter den Linden | Foto (C) Simon Gosselin

o. b. - 8. November 2021
ID 13278
IDOMÉNÉE (Staatsoper Unter den Linden, 05.11.2021)
Musikalische Leitung: Emmanuelle Haïm
Inszenierung: Àlex Ollé / La Fura dels Baus
Mitarbeit Regie: Susana Gómez
Bühnenbild: Alfons Flores
Kostüme: Lluc Castells
Licht: Urs Schönebaum
Video: Emmanuel Carlier
Choreografie: Martin Harriague
Dramaturgie: Benjamin Wäntig
Besetzung:
Idoménée ... Tassis Christoyannis
Idamante ... Samuel Boden
Ilione ... Chiara Skerath
Électre ... Hélène Carpentier
Vénus ... Eva Zaïcik
Éole, Neptune ... Yoann Dubruque
La Jalousie, Némésis ... Victor Sicard
Abbas, Protée ... Frédéric Caton
Arcas ... Enguerrand de Hys
Compagnie Dantzaz
Le Concert d'Astrée
Premiere an der Opéra de Lille war am 24. September 2021.
Berliner Premiere: 5. November 2021
Weitere Termine: 10., 14., 18., 20.11.2021
Koproduktion mit der Opéra de Lille


Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsoper-berlin.de/


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