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Stückeinführung

Staatsopern-Matinee zu Idoménée von André Campra




Auch schon in früheren Zeiten hatten Persönlichkeiten, die mit gutem Grunde ein Pseudonym nutzen, Ärger mit vorwitzigen oder ignoranten Zeitgenossen: als Kirchenmusiker an der Pariser Kathedrale Notre-Dame (hinreißende Grand Motets und ein unglaublich ergreifendes Requiem!) war es dem Maître André Campra (1660-1744) nicht nur verboten, Musik für das Theater zu komponieren, sondern überhaupt ein Theater gar zu besuchen. Also veröffentlichte er eine erste Ballettoper 1697 unter dem Namen seines jüngeren Bruders. Prompt flatterte durch die französische Hauptstadt ein Spottvers, der das Ganze mit einem Wortspiel bös zusammenreimte: wenn der Erzischof ahnte, wer die neue Oper geschrieben hat, Campra wohl das Feld räumen („decampra“) müsse. Immerhin gab es gerade damals, wie heute wieder, genug brotlose Künstler.

Als Staatsopern-Dramaturg Benjamin Wäntig unter dem Motto Wer war Campra? den Lebenslauf des in unseren Regionen fast völlig unbekannten Musikgiganten erläuterte, steuerte Emmanuelle Haïm mit munterem Vergnügen diese Anekdote seiner Erzählung bei – und überhaupt verlief die Einführungsmatinee zur bevorstehenden Premiére des Idoménée von André Campra so anregend wie auf angeregt heiterem Niveau, was nicht gerade die Regel bei solchen Veranstaltungen ist. Und Schreiber dieses muss bekennen, vom Charme der französischen Dirigentin, deren Wirken er schon viele Jahre mit Erstaunen und Begeisterung verfolgt, absolut fasziniert worden zu sein: nicht viele ihrer Kollegen sind vergleichsweise so detailbeschlagen und interdisziplinär informiert wie Haïm.

Selbst Wäntig bekannte sympathischerweise, außer den Namen Campras zuvor noch kein Werk dieses Meisters gekannt zu haben, und es wird wohl den meisten hier so gehen. Das ist etwa so, als würde man in den Niederlanden noch nie etwas von Robert Schumann gehört haben. Immerhin war Campra Frankreichs überragender Komponist in der Ära zwischen Lully und Rameau (und das ist eine Epoche, in der Frankreich eine schiere Überfülle exzellenter Musiker aufwies), so gab sein meisterhafter Idoménée in der Tat die Anregung für Mozarts späteren Idomeneo ‒ auch dieser basiert auf dem Text von Crébillons Tragödie von 1705.

Darauf ging sogleich das Gespräch mit Emmanuelle Haïm ein, die aufschlussreich Gemeinsamkeiten und bedeutsame Unterschiede in den Strukturen beider Werke erläuterte, womit sie eine Fülle von Aspekten, Hintergründen, Geschichten und Besonderheiten anstieß – über die Rolle des Tanzes und des Wortes in der französischen Oper (Sänger wurden v.a. für ihre Darstellungskunst gelobt), Campras Adaption südlicher Volksmusik, den italienischen Einfluss, den der provencalische Campra verarbeitete, den Stellenwert des Theatralischen im Gesamtkunstwerk Tragédie lyrique (der spezifisch französischen Oper), die verschiedenen Werkfassungen oder das überraschende Finale und die berührende Lösung des Götter-Problems durch das Regie-Team.

So entfaltete sich, illustriert von der Sprache ihrer Hände und mit Sechzehntel-Violinpassagen, die Haïm vorsang, um z.B. die Gewitterszene zu veranschaulichen, ein farbig schillerndes Spektrum des klassizistischen Barockheaters in Paris. Vor allem erfreut dessen Lebendigkeit und Jugendlichkeit, die greifbare Liebe zur kulturellen Tradition, die einen Bogen schlägt, um heute Kreationen zu entwickeln, die Wesen und Kern der Klassik unmittelbar neu auf die Bühne und ins Bewusstsein der Gesellschaft zu bringen: ganz ohne besserwisserische Ignoranz, doch mit dem gehörigen Schuss Humor, Lebens- und Weltkenntnis.

Dass ein Campra mit seinem langjährigen Librettisten Antoine Danchet Werke schuf, die an musikdramaturgischer Finesse und Meisterschaft weder denen der Zeitgenossen Händel (oder selbst Bachs), noch des jungen Mozart der opere serie etwas zurück zu stecken hätten, davon können sich alle Interessierten in den bevorstehenden Aufführungen nun selbst überzeugen. Berlin darf dieser Initiative der Franzosen und unserer Staatsoper nur danken! Selbst wer, wie Schreiber dieses, die einzige Plattenaufnahme von Campras Idoménée (William Christie, 1991/1992) bereits seit vielen Jahren kennt und liebt, hatte doch reichen Gewinn aus dieser Wiederbegegnung mit der genialen Dirigentin, deren Ensemble überdies am 8. November mit einem Gala-Konzert und vielen Top-Stars der französischen Barock-Szene ihr 20. Jubiläum feiert.
Olaf Brühl - 1. November 2021 (2)
ID 13265
Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsoper-berlin.de/


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