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nachDRUCK # 6

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Repertoire

Topografie einer

Gesellschaft

des Schmerzes



Der eingebildete Kranke im Residenztheater München | Foto (C) Sandra Then

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Der eingebildete Kranke ist neben Der Geizige auch heute noch die am häufigsten gespielte Komödie von Molière. Geld und Gesundheit sind in der neoliberalen Leistungsgesellschaft eng miteinander verknüpft. Der Spezialist für moderne Molière-Überschreibungen im Theater ist unbestritten der Autor und Popmusiker PeterLicht. Vier Stücke des französischen Komödiendichters hat er schon mit einem neuen Text belegt. Seine Version des Tartuffe in der Regie von Claudia Bauer war zum Berliner Theatertreffen 2019 eingeladen. Intendant Andreas Beck hat sie aus Basel mit ans Residenztheater gebracht, wo sie ab April wieder zu sehen sein wird. Die erste Zusammenarbeit von Licht und Bauer für das Resi ist also nun Der eingebildete Kranke (insgesamt ihre dritte Molière-Adaption), für die sich der Autor den Untertitel Das Klistier der reinen Vernunft ausgedacht hat. Ein im Stücktext auch mal kurz auftauchender Querverweis zu Kant und Descartes, der aber nicht weiter wichtig ist, außer um daraus ein paar lustige Volten zu schlagen. Wer bereits den Tartuffe genießen durfte, wird auch hier nicht enttäuscht. PeterLicht schmeckt seinen textlichen Medikamenten-Cocktail wieder mit diversen Satzschleifen, Verniedlichungsformen der Figurennamen und „Okay-Versteh“-Sprech ab.

Dass nicht jeder auf diese Art Humor steht, wurde auch schon beim Theatertreffen klar. Und auch im Residenztheater gibt es ein paar vorzeitige Walkouts und Buhrufe im Publikum. Doch zunächst läuft via elektronischem Spruchband eine Art Stückeinführung, während die „Crew“ um Hauptfigur Argan sich noch hinter der Bühne warm läuft. Der „Argi“ muss raus. Es geht ihm aber nicht so gut. Das ist der Grundtenor der pausenlosen 2,5 Stunden. Der Superstar und die „Sonne im eigenen Sonnensystem der Hypochondrie“ lebt in „der Vorstellung seines grandiosen Ich-Bezugs“. Ein „alter weißer Mann“ und die „Zentralgestalt eines gesellschaftlichen Systems“, das sich seit den barocken Sonnenkönigen zwar etwas modernisiert hat, sich aber immer noch über Macht definiert. Der Tod wird hier als das Abhandenkommen dieser Macht beschrieben. Und so ist es auch im „Superstarkosmos“ des sich krank fühlenden Argon nicht mehr ganz so sonnig.

Florian von Manteuffel hat wie schon in den anderen Molière-Überschreibungen von PeterLicht die Hauptrolle übernommen. Sein Argan ist als eingebildeter Kranker ein sich bemitleidender Egomane im barocken Rüschenlook. „Ich bin alt, weiß, krank und werde sterben, schönen Abend.“ ist sein Gruß ans Publikum. Sich auf sein Kissenlager fläzend resoniert er über teure Arztrechnungen, Chiropraktiker, Zahnschienen und Osteopathen im Mund, die ihm mit bloßen Händen die Zähne richten. Mit dem Handy um den Hals setzt er immer wieder Sprachnachrichten an seine Privatsekretärin Toinette (Myriam Schröder) ab, endlich zu kommen. Er braucht jemanden, der ihn anfasst und in ihm rührt. Was damit gemeint ist, wird in einem langen Disput um Darmreinigung und einen ebenso langen Wollfaden erörtert. Was ihm eigentlich fehlt, wo er doch alles hat, ist den anderen nicht so recht klar. Nur, dass er was hat und Unterstützung braucht.

So überdrehen sich hier Wortwitz und Satzschleifen ähnlich wie bei René Pollesch nur wesentlich überspitzter in einem sich ebenfalls drehenden Bühnenturm (von Andreas Auerbach), der vorn das Lager des Argan zeigt und hinten die blanken Kulissen mit Treppen, auf denen das Personal beständig auf und ab läuft, oder wie Tochter Angelique, genannt „Likki“ (Antonia Münchow), und Ehefrau Béline (Pia Händler) ergebungsvoll um ihre Sonne herumschwänzeln. Während Béline auf das Ableben des Gatten wartet und mit dem „Noti“ Bonnefoy (Ulrike Willenbacher) das Erbe günstig zu beeinflussen versucht, will Argan eine sogenannte „Schmiegepartnerschaft“ zwischen seiner Tochter und dem Arzt und Proktologen Purgon (Christoph Franken) schmieden, obwohl Likki eher den coolen Cléante (Max Rothbart) im Sinn hat.

Soweit hält sich Autor Licht dann doch, wenn auch nur peripher an den Plot von Molière. Ansonsten dichtet er herrliche Songs über die Topografie des Schmerzes und seine Macht über den Körper. Wie der Kapitalist will er immer mehr. Das kulminiert in einem Chor der Darmpolypen (Kostüme: Vanessa Rust). Den Vogel schießt allerdings Christoph Franken (Neuzugang von DT in Berlin) als Arzt Purgon ab, der in einigen köstlichen Auftritten etliche Gesundheitstipps zum besten gibt, den Tod uncool findet und mit dem Song „Nimm doch mal ein Ibuprofenchen“ den Heilsbringer ans Publikum verteilt. Argan-Bruder Béralde (Thomas Lettow) treibt Descartes „Ich denke, also bin ich“ in einem Disput mit dem leidenden Argon gegen das Denken und für das Gefühl auf die Spitze. Dazu bietet die Inszenierung eine überbordende Bühnenshow mit Livemusik, Trampolin und Kissenschlacht. Das ist so blöd wie herzerfrischend wahr und also doch auch irgendwie komisch.



Der eingebildete Kranke im Residenztheater München | Foto (C) Sandra Then

Stefan Bock - 3. Januar 2020
ID 11912
DER EINGEBILDETE KRANKE ODER DAS KLISTIER DER REINEN VERNUNFT (Residenztheater München, 31.12.2019)
von PeterLicht nach Molière

Regie: Claudia Bauer
Bühne: Andreas Auerbach
Kostüme: Vanessa Rust
Musik: PeterLicht
Arrangements und Musikalische Leitung: Henning Nierstenhöfer
Live-Kamera: Jaromir Zezula/Josef Motzet
Licht: Gerrit Jurda
Dramaturgie: Constanze Kargl
Mit: Florian von Manteuffel, Pia Händler, Antonia Münchow, Thomas Lettow, Myriam Schröder, Max Rothbart, Christoph Franken und Ulrike Willenbacher sowie den Musikern Cornelius Borgolte und Henning Nierstenhöfer
Premiere war am 20. Dezember 2019.
Weitere Termine: 04., 18.01. / 05., 11., 22.02.2020


Weitere Infos siehe auch: https://www.residenztheater.de/


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