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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Toxische,

ungebändigte

Männlichkeit



Liliom am Thalia Thater Hamburg | Foto (C) Matthias Horn

Bewertung:    



Liliom, der raue, ungehobelte Ringelspielausrufer aus dem gleichnamigem Stück des ungarischen Dramatikers Ferenc Molnár, passte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht so richtig in die Zeit. Hundert Jahre später aber noch viel weniger. Ein unangepasstes Mannsbild, das auch aus Frust mal seine Geliebte und spätere Frau, das Dienstmädchen Julie, schlägt. Wegen ihr hatte er seinen Job auf dem Karussell der Frau Muskat aufgegeben, aber keinen passenden neuen gefunden. Als Julie schwanger ist, begeht Liliom aus Not mit dem Gauner Ficsur einen Raubüberfall, der fehlschlägt, und entzieht sich der Festnahme durch Selbstmord. Im Vorhimmel wird ihm nach Jahren der Buße vom Selbstmördergericht eine zweite Chance gegeben, an einem Tag auf der Erde etwas Gutes zu tun. Liliom trifft dort auf seine Tochter Luise. Aber bereuen will er nichts. Mann bleibt eben Mann.

*

Den ungarischen Regisseur Kornél Mundruczó, den man in Deutschland durch mehrere Gastspiele mit seinem Proton-Theater kennt, scheint an dieser Gestalt vor allem interessiert zu haben, wie sich das schiefe Ungehobelte in die aktuellen Debatten unserer Zeit einfügt. Natürlich gerade auch in Zeiten von MeToo. Das Märchenhafte, die Phantasie und Ungehobeltheit dieser Figur, wie es Molnár in einem Kommentar zu seinem Stück beschrieb, kann bei dieser politisch korrekten Betrachtungsweise natürlich verloren gehen. Etwas Neues daraus entstehen zu lassen, könnte der Mehrwert dieser Inszenierung sein. Und an Poesie und nötigem Witz fehlt es ihr auch erstmal nicht.

Michael Thalheimer hatte den Liliom bereits im Jahr 2000 mit einer fast brutalen Vehemenz auf die Bühne des Thalia Theaters gebracht, dass sich der ehemalige Bürgermeister Klaus von Dohnanyi  genötigt sah, vor Ort für das Stück Partei zu ergreifen. Gleiches braucht es für diese Koproduktion des Thalia mit den Salzburger Festspielen sicher nicht. Ein soziales Märchen mit Gefühl ist heute nicht unbedingt zeitgemäß, und doch versuchte es Mundruczó mit verschiedenen Mitteln, dem Märchenhaften des Stücks auf die Sprünge zu helfen.

Dazu gehören auch zwei Industrieroboter, die wie von Zauberhand beweget immer wieder Requisiten, etwa ein ganzes Vorstadtwäldchen samt Bank, auf die Bühne heben. Die Technik versagte prompt kurzzeitig in der Hamburger Premiere. Ein Zeichen vielleicht. Doch ist der Einsatz durchaus gerechtfertigt und sorgt für ein paar schöne Bilder auf der sonst fast leeren Bühne, auf der auch mal ein paar Bretterbuden wie auf dem Rummel stehen, aus deren Innerem live gefilmt wird.

Als Rahmen dient dem Regisseur genau jenes Selbstmördergericht, das er hier aus Mitgliedern des Ensembles und queeren Laien zusammengesetzt hat. Ein interessanter Kniff, der durchaus Reiz hat, aber auch nicht weiter stört. Die Szene im Himmel ist an den Anfang gestellt. Liliom begehrt Einlass an der eiserne Pforte, scheitert aber an der Formular-Bürokratie. Die Zeit des Wartens darf er sich mit Rückblenden auf sein vergangenes Leben verkürzen. Jörg Pohl spielt den Liliom als proletarischen Strizzi, dem die Weiber im Ringelspiel zufliegen. Maja Schöne als Julie und Yohanna Schwertfeger als deren Freundin Marie wissen, was sie wollen und spielen auch schon mal einen Orgasmus auf der Parkbank. Dort, wo auch der erste einvernehmliche Sex des Liebespaars erfolgt.

Mundruczó kürzt die Vorlage recht stark, lässt Szenen in der Wohnung der Frau Hollunder (Sandra Flubacher, hier eigene Dada-Künstlerin), wo das Paar Liliom und Julie unterkommt, mit Live-Kamera aus dem Inneren übertragen. Wir sehen toxische Männlichkeit zwischen der Begehrlichkeit einer Frau Muskat (Oda Thormeyer) und den Versuchen von Julie den arbeits- und perspektivlosen Liliom zu bändigen. Das soll ihn aber nicht entschuldigen. Zur Buße wird ihm vor dem Himmelstor auferlegt, 100 mal „Ich bin Teil des repressiven Patriarchats“ an die Wand zu schreiben.

Dass dieser Mensch ein gewissen Bedrohungspotential ausstrahlt, will die Inszenierung mit kleinen Zwischenspielen verdeutlichen. Ansonsten schreckt Mundruczó auch nicht vor Albernheiten zurück, wenn er Liliom und Ficsur (Tilo Werner) in einem Pool planschen lässt. Doch auch ein Herz scheint dieser ungehobelte Klotz zu haben, auch wenn es erst nach etlichen Versuchen mit seiner Tochter, die hier von einer Darstellerin mit Downsyndrom gespielt wird, Seil zu springen schlägt. Ein vielschichtiger Theaterabend, der zwischen Witz und Poesie die Mitte sucht wie Liliom den Eingang zum Himmel, einem „Safe Space“, der für den ganz bewusst reuelosen Sünder unerreichbar scheint.



Liliom am Thalia Thater Hamburg | Foto (C) Matthias Horn

Stefan Bock - 22. September 2019
ID 11692
LILIOM (Thalia Theater Hamburg, 21.09.2019)
Regie: Kornél Mundruczó
Bühne: Monika Pormale
Kostüme: Sophie Klenk-Wulff
Musik: Xenia Wiener
Choreografie: Yohan Stegli
Licht-Design: Felice Ross
Live-Kamera: Martin Prinoth
Dramaturgie: Christina Bellingen, Soma Boronkay und Kata Wéber
Mit: Jörg Pohl (Liliom), Maja Schöne (Julie), Oda Thormeyer (Frau Muskat), Yohanna Schwertfeger (Marie), Tilo Werner (Ficsur), Julian Greis (Wolf Beifeld u.a.), Sandra Flubacher (Frau Hollunder u.a.), Mila-Zoe Meier und Paula Stolze(Luise; alternierend) sowie James Bleyer (Der Drechsler), Jens Hoormann (Der geschlagene Engel) als auch Kathrin Klein, Francois Lallemand, Julia Nordholz, Aref Weikert und Joelle Westerfeld
Premiere bei den Salzburger Festspiele: 17. August 2019
Hamburg-Premiere: 21. September 2019
Weitere Termine: 29.09. / 19., 20., 21.10. / 02., 03.11. / 20., 21., 22.12.2019 // 02.01.2020
Koproduktion mit den Salzburger Festspielen


Weitere Infos siehe auch: https://www.thalia-theater.de/


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de

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