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Premierenkritik

Am Barte des Kaisers

DER UNTERTAN am Staatsschauspiel Dresden

Bewertung:    



Am Barte des Kaisers - soviel Majestätsbeleidigung sei mir gestattet - klebten häufig einige unappetitliche Brocken, sagt man. Einem davon hat Heinrich Mann vor über hundert Jahren einen ganzen Roman [Der Untertan] gewidmet. Eine Adaption dieses Stoffes brachte nun das Staatsschauspiel Dresden auf die große Bühne und eröffnete damit die Saison.

*

Diederich Heßling war ein weiches Kind, wie wir alle wissen, aber er blieb es nicht. Oder besser, er glaubte dies kompensieren zu müssen - mit den bekannten Ergebnissen. Man muss nicht Freud bemühen, um zu wissen, woher der ganze Kaiserschmarrn also kam.
Die Dresdner Theaterfassung nutzt eine Diedel-Puppe (großartig gebaut, geführt und gesprochen von Michael Pietsch) als Alter Ego des Heßling und eröffnet damit weite Möglichkeiten für die psychologische Ausleuchtung der Figur. Immer wieder beeinflusst die Puppe Diederichs Handlungen, lenkt ihn auf den Pfad, der ihm vorbestimmt scheint: Ein treuer Untertan des Kaisers und ein absoluter Herrscher in seinem eigenen kleinen Reich.
So prallt auch die letzte Versuchung an ihm ab, die Geliebte Agnes wird abserviert, mit der islamistisch klingenden Begründung der fehlenden Jungfräulichkeit. Die Dialektik des Patriarchats hat gewonnen.

Aber von vorne: Die Kindheit wird auf der Vorbühne als Kammerspiel inszeniert, neben Klein-Diedel ist noch Groß-Diedel zugegen in den Rollen von Vater und Mutter. Das psychologische Grundgerüst ist errichtet, schon dies lässt auf einen guten Abend hoffen.

Dann Bühne frei für Berlin, es eröffnet sich ein raffiniert gebautes Karussell (Bühne: Julia Kurzweg) über zwei Etagen, ein runder Setzkasten des Biedermeier-Lebens, später auch der Lumpenfabrik.

Diederich entstammt erkennbar aus einer kulturfernen Schicht, sein Souffleur Diedel macht es auch nicht besser, sein Eintritt in die Gesellschaft wird zum Debakel, die eben erst geknüpften zarten Bande zur Tochter des Hauses werden seinerseits voll Scham gekappt.

Deutlich besser aufgehoben fühlt sich der Student bei den Trink- und Kotzfestspielen in Schwarz-Weiß-Rot, „Bier ist innere Freiheit“, der Kaiser ist im Geiste immer dabei.

Sein erstes „Hallo Herr Kaiser“ findet in den Wirren einer Straßenrevolte statt, unmittelbar danach begegnet ihm Agnes, die immer noch geheiratet werden will und muss. Es fügt sich, und für einen kurzen Moment scheint Diederich Heßling zum richtigen Leben bekehrt – bis Agnes (anrührend: Deleila Piasko, später auch als Arbeitermädchen) ihm ihre Abhängigkeit offenbart. „Du hast ja wenigstens mich, doch wen hab ich?“ scheint er dann, frei nach Hauptmann, zu denken. Der Zauber ist vorbei, bald lässt er sie sitzen, auch den bekümmerten Vater lässt er wegtreten mit der oben beschriebenen Dialektik.

Heßling hat ohnehin Wichtigeres zu tun, nach dem Tod des Vaters muss er die Lumpenfabrik im heimischen Kaff great again machen, was nicht wirklich glückt. Immerhin tritt er in die höhere Gesellschaft ein, zeigt sich bei Bedarf auch mal liberal, auch wenn ihn diese humanitäre Verweichlichung anwidert. Doch noch scheint die Zeit nicht gekommen, der inzwischen Promovierte verkehrt im Hause Buck, das in der Kleinstadt den Ton angibt, der eher sozialromantisch klingt. Leider baut der Patriarch (glänzend: Torsten Ranft, auch in den weiteren Rollen) sichtlich ab, und der Sohn des Hauses irrlichtert zwischen den Welten Netzig und Berlin.

Von Bedeutung wird dies, als die fette Guste (komödiantisch: Ursula Hobmair; beeindruckend angezogen von Sophie du Vinage) die Szene betritt, deren Beleibtheit durch eine beachtliche Mitgift überkompensiert wird. Anverlobt ist sie jenem Sohne Wolfgang, aber das ist wohl aus Sicht beider langfristig keine gute Idee, Diederich hat es mit seinen Intrigen leicht.

Zwischendurch kungelt er noch mit der verhassten Sozialdemokratie, wo Sven Hönig als machtbewusster Arbeiterführer brilliert und gemeinsame Interessen deutlich macht, feuert voller Freude Arbeiter und bringt eine davon wegen Majestätsbeleidigung vor Gericht, ist also zum wertvollen Mitglied der Gesellschaft geworden.

Der Weg für eine Fusion mit Guste (mit bizarrer Erotik im Lumpenhaufen seiner Fabrik) und derem Kapital (notariell beglaubigt und mit einer Hochzeitsreise nach Italien gekrönt) ist also geebnet.

Auf jener Reise gibt er dann auch das perfekte Kaiser-Groupie, seine Majestät sind wahlweise peinlich berührt oder geschmeichelt.

Zuvor – gleich nach der Pause und wiederum vor dem Vorhang – gibt es noch eine Delikatesse zu genießen: Lukas Rüppel spielt als Wolfgang Buck den Dr. Heßling unter Anleitung desselben bzw. vom Schauspielkollegen Jannik Hinsch. Auch hier zeigt sich, dass die Kopie dem Original nicht gewachsen ist, das Saufduell geht klar an Hinsch-Heßling, Rüppel-Heßling fehlt es an Fassungsvermögen.

Aber eine großartige Szene ist das, die allen im Saal erkennbar Freude macht.

Dann ein verblüffender Schwenk ins Wagner-Fach: Dr. Heßling nebst Gemahlin sehen Lohengrin, nein, sie werden Teil der Handlung, Diedel trägt die Uniform eines Operettengenerals und macht sich national berauscht noch in der Loge an die Fertigung deutscher Helden.

Damit hätte das Stück auch einen schönen Schluss gehabt – leider verzettelt es sich dann etwas in einer mystischen Kamerafahrt durch die Zeiten, den Hitler hätte es nicht gebraucht und noch weniger den Spitzbart mit den bekannten Zitaten.

Am Ende die Familienaufstellung, Dr. Heßling hat dem Kaiser zwei Söhne geschenkt und ein Mädchen zur Arterhaltung. Sein Aufstieg in der Gesellschaft wird untermalt in einem feinen Kneipen-Spiel mit den Worten Diederich und Heßling, das ist nun wiederum sehr sehenswert.

Der alte Buck hat noch mahnende Worte, aber Heßling als menschgewordene Pickelhaube kippt ihn aus dem Rollstuhl, es hat sich ausgebuckt, nun wird geheßt.

Über einem und unter einem muss jeweils einer stehen, dann ist die Statik der Gesellschaft in Ordnung, und tausend kleine Kaiserlein sorgen dafür, dass das auch so bleibt. Die „harten Zeiten“ sind ständig, und gerade jetzt besonders, da kennt man keine Parteien mehr, da gibt es nur noch den Fall Rot, da müssen wir zusammenhalten, der Wettbewerb ist global, da ist keine Zeit für Utopien.

Großes Bravo zweiter Klasse insgesamt, ein gelungener Auftakt der Saison dank des Regisseurs Jan-Christoph Gockel, der gemeinsam mit der Dramaturgin Julia Weinreich eine ernsthaft-unterhaltsame Bühnenfassung entwickelt hat und diese mit leichter Hand umsetzt, vor einer hier schon gelobten Bühne und mit der Musik von Anton Berman, die auch im übertragenen Sinne immer den richtigen Ton trifft. Es wird nichts zwangsaktualisiert, aber die Bezüge zum Heute sind sichtbar, das unsägliche „Volksempfinden“ hat seinen Platz, und der von Torsten Ranft gesprochene Hass-Text, den Heinrich Mann 1933 schrieb, könnte besser kaum passen.

Und der Spielzeit-Auftakt ist auch deshalb ein großer Erfolg, weil Jannik Hinsch den Heßling fast schon beängstigend präzise spielt, von der feigen Weinerlichkeit bis zur gnadenlosen Brutalität, kongenial begleitet von der Diedel-Puppe. Hinsch ist erst im zweiten Jahr fest am Hause engagiert, konnte aber bereits als Mitglied des Schauspielstudios überzeugen und etabliert sich mehr und mehr als feste Größe im Ensemble.

Hat mir gefallen, hat mir sehr gefallen, der Abend, und die Vorfreude auf die Saison wächst.
Sandro Zimmermann - 9. September 2018
ID 10900
DER UNTERTAN (Schauspielhaus, 07.09.2018)
Regie: Jan-Christoph Gockel
Bühne: Julia Kurzweg
Kostüme: Sophie du Vinage
Puppenbau: Michael Pietsch
Musik und Live-Musiker: Anton Berman
Licht: Andreas Barkleit
Dramaturgie: Julia Weinreich
Besetzung:
Diederich Hessling ... Jannik Hinsch
Diederich Hessling, genannt Diedel ... Michael Pietsch
Buck sen. / Herr Göppel ... Torsten Ranft
Buck jun. ... Lukas Rüppel
Agnes / Mädchen aus der Psychiatrie / Arbeitermädchen ... Deleila Piasko
Guste Daimchen ... Ursula Hobmair
Napoleon Fischer ... Sven Hönig
Premiere am Staatsschauspiel Dresden: 7. September 2018
Weitere Termine: 09., 13., 17., 30.09.2018


Weitere Infos siehe auch: http://www.staatsschauspiel-dresden.de


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