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nachDRUCK # 6

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Performance

Sprechakt

in Fesseln



Amok von und mit Cordelia Wege am Berliner Ensemble | Foto (C) Matthias Horn

Bewertung:    



Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig nahm sich 1942 nach Jahren unfreiwilligen Exils auf der Flucht vor den Nazis in Brasilien das Leben. Seine Kräfte seien „durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft“, wie er in einem Abschiedsbrief schrieb. Die Sehnsucht nach der „Morgenröte“ war zu groß geworden. Bekannt geworden ist Zweig vor allem durch sein umfangreiches Prosawerk, das neben Romanen und Biografien auch zahlreiche Novellen umfasst. Darunter die 1922 erschiene Sammlung Amok. Novellen einer Leidenschaft. Auch darin geht es um unerfüllte Sehnsüchte, Leidenschaften und Begierden. Amok ist ein Begriff aus der indonesischen Kultur, der einen Rauschzustand beschreibt, in dem die betroffene Person blindwütig und wahllos andere Personen angreift und tötet. In einem solchen Zustand wähnt sich auch der Protagonist der 1912 in der Kolonie Niederländisch-Indien angesiedelten Novelle Der Amokläufer.

Ein namenloser deutscher Arzt berichtet darin einem Fremden auf einer Schiffsfahrt nach Europa, wie ihn im damaligen Batavia auf Indonesien eine englische Lady aufsuchte und von ihm eine Abtreibung verlangte. Das angebotene Geld hatte er aber ausgeschlagen. Da die stolze Frau nicht bitten wollte, versuchte er sie zu brechen, indem er anstatt des Geldes eine Liebesnacht verlangte, was die Frau ablehnte und an den Folgen eines illegalen Abbruchs im Chinesenviertel starb. Auf dem Strebebett nahm sie dem zu Hilfe gerufenen Arzt das Versprechen ab, dass ihr Mann nichts davon erfahren dürfe. Diesem Versprechen folgend schiffte sich der Arzt an Bord des Überseedampfers Oceania ein und stürzt sich mit dem Bleisarg der Verstorbenen beim Ausladen in Neapel ins Meer.

Eine solche Story um sexuelle Begierde und sexistische Erniedrigung ist heute nur noch schlecht vermittelbar. Schon der koloniale Hintergrund würde nach einer heutigen Reflexion verlangen. Die Schauspielerin Cordelia Wege hat die Novelle für die Große Bühne des Berliner Ensemble bearbeitet und sich für diesen sehr intensiven Sprechakt in eine Art Bondage-Gerüst hängen lassen, gefesselt an Armen und Beinen mit einem Bauchgurt fixiert. Das natürlich freiwillig, anders als die Figuren aus Zweigs Novelle, die in gesellschaftlichen und persönlichen Zwängen gefangen sind. Eine Befreiung kann hier nur durch eine zu sanktionierende Übertretung erfolgen. Die Lage des Gefesseltsein, aus der die Schauspielerin nur durch fremde Hilfe der Bühnentechniker wieder befreit werden kann, ist da ein starkes Bild. Schon der Akt des Anlegens der Gurte und Ketten wird hier zu Beginn weidlich zelebriert. Im Laufe des Abends wird Cordelia Wege die Bühnenarbeiter mehrmals bitten, die Fesseln zu lockern, oder ihr die Leiter zum Abstützen zu bringen.

Man kann das auch als Konterkarieren des Textes deuten, in dem die Frau dem Mann jene Bitte versagt und damit die übergriffige Wollust des Mannes entfacht, der sich nach mehreren Jahren in einem Tropenspital nach Gesellschaft und Nähe sehnt und sich als Mensch verkannt fühlt. In ihrem hochkonzentrierten Vortrag fragmentiert Cordelia Wege Zweigs pathetische Sätze und wiederholt dabei einzelne Worte wie „Versprechen“, „Wollust“ oder bringt andere Texte aus den Amok-Novellen wie „Alles in mir lechzt nach Kühle“ (Die Frau und die Landschaft). Sehnsucht und Verlangen werden hier deutlich. Zweigs Nähe zu Sigmund Freud spiegelt sich aber mehr im Körperlichen als im Psychologischen. Emotional verstärkt wird der Vortrag durch den Elektrosound des Live-Musikers Samuel Wiese, der sich immer wieder zu einem Klangrausch hochspielt.

Unter Weglassung des kolonialen Rahmens konzentriert sich der Vortrag auf zwei entscheidende Szenen der Novelle. Erst die der ersten Begegnung des Arztes mit der Frau und dann die zweite nach der blutigen Abtreibung. Cordelia Wege krümmt sich in ihrem Geschirr, reißt an den Ketten. Sie vertauscht auch ganz bewusst die erzählende dritte Person mit der ersten und gibt der gemarterten Frau eine Stimme, in dem sie ihr auch Sätze des Mannes in den Mund legt: „Ich bin ein Mensch.“ Das kulminiert auch immer wieder in assoziative Wortkaskaden, bis der Kasten mit Wege zum Kippen gebracht wird. Am Ende wirkt es dann irgendwie auch erlösend, wenn die Schauspielerin, wieder aus ihrer Lage befreit, beschwingt zu klassischer Musik den Beifall des Publikums entgegen nimmt.



Amok von und mit Cordelia Wege am Berliner Ensemble | Foto (C) Matthias Horn

Stefan Bock - 3. September 2021
ID 13118
AMOK (Berliner Ensemble, 02.09.2021)
nach Stefan Zweig

Von und mit Cordelia Wege
Kostüm: Cordelia Wege und Svenja Niehaus
Mitarbeit Bühne: Katja Pech
Musik: Samuel Wiese
Dramaturgie: Johannes Nölting
Premiere war am 1. September 2021.
Weitere Termine: 05., 19., 25.09. / 03.10.2021


Weitere Infos siehe auch: https://www.berliner-ensemble.de/


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