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Rezension

„Wer ist eigentlich dieser Franz Jung?“

fragen im Berliner HAU2 die MacherInnen

der Performance Die Technik des Glücks

- eine Franz-Jung-Revue

Bewertung:    



Während sich gerade zum 100. Jahrestag der Novemberrevolution 1918 die kriselnde SPD leicht geschichtsvergessen wieder als Gründerin der Deutschen Republik und Retterin der Demokratie feiert und die unter Mitwirkung ihrer damaligen Führer niedergeschlagene Räterepublik allerorten als Vorbote des politischen Chaos und des stalinistischen Terrors bezeichnet wird, widmet sich ein kleiner Theaterabend am Berliner Hebbel am Ufer einem leider fast in Vergessenheit geraten Protagonisten dieser aufregenden Zeit des Umbruchs in Deutschland - dem Schriftsteller, studierten Ökonom und politischen Denker Franz Jung (1888-1963). Ein Enfant terrible der extremen Linken und früher Sponti - aber einer mit intellektuellem Hintergrund. Im kleinen oberschlesischen Ort Neiße als Sohn eines Uhrmachermeisters geboren, studierte Jung ab 1907 zunächst Musik, wechselte dann aber zu Volkswirtschaft, Rechts-, Kunst und Religionswissenschaften, war auch schlagendes Mitglied in der Burschenschaft Germania, aus der aber schnell wegen Insubordination ausgeschlossen wurde.

Schon in jungen Jahren ein rebellischer Typ, fand Jung seine politische Heimat zunächst im links-anarchistischen Lager in den Münchner Kreisen um Erich Mühsam, der dem jung Verheirateten die Frau ausspannen wollte und ihn etwas verächtlich als Alkoholiker bezeichnete. Durchzechte Nächte in Schwabinger und Berliner Kneipen gehörten zu Jungs Leben wie die Suche nach dem Glück, dem er auch den Essay Die Technik des Glücks widmete. Und so heißt dann auch der Theaterabend, den die Neu-Verlegerin von Jungs Werk, Hanna Mittelstädt, zusammen mit der Berliner Autorin Annett Gröschner und der Regisseurin Rosmarie Vogtenhuber geschaffen haben: Die Technik des Glücks - eine Franz-Jung-Revue. Die Musik dazu kommt von der Hamburger Band Die Sterne.

Als einen der aufsässigsten Vertreter der expressionistischen Linken bezeichneten Kritiker den Autor schon zu Lebzeiten. Jung verfasste einige Theaterstücke, die auch von Erwin Piscator aufgeführt wurden. Er veröffentlichte Texte in den Zeitschriften Der Sturm und Die Aktion und gab mit Der Gegner auch ein eigenes Blatt heraus. Dazu kommt ein ausuferndes literarisches Werk u.a. mit dem Trottelbuch oder der Novelle Der Fall Gross über den Psychoanalytiker und Freud-Kritiker Otto Gross. Der Abend speist sich überwiegend aus Jungs Autobiografie Der Weg nach unten. Performt wird das von den Schauspielern Robert Stadlober und Wolfgang Krause Zwieback tatsächlich als Revue, ein Lebenslauf mit Musik. Wobei man Lauf schon fast wörtlich nehmen kann, so schnell hasten zunächst die beiden Darsteller durch Jungs Biografie. Den Beat dazu schlägt der Drummer der Band Die Sterne. Fast rastlos geht es da durch die Stationen wie den Ersten Weltkrieg, den der Anarchist von innen zersetzen will. Ein Weg durch die Institutionen wird es dann aber später doch nicht. Jung bastelt Bomben, beteiligt sich an Arbeiteraufständen in Sachsen und Berlin, oder druckt im heißen November 1918 in seinem Büro am Halleschen Ufer politische Parolen auf Geldscheine.

So viel zur unmittelbaren Nähe, die die interessante Biografie Jungs mit dem Veranstaltungsort HAU2 verbindet. Was den Menschen Jung aber heute wirklich erst wieder interessant macht, ist sein unglaublicher Ideenreichtum gepaart mit einer konsequent unabhängigen Geisteshaltung und dass er damit eigentlich so einfach nicht zu fassen ist. Das soll auch die Darstellung durch zwei Performer verdeutlichen. „Wer ist eigentlich dieser Franz Jung?“ Eine ambivalente, gespaltene und ungeheuer vielseitige Person. Ein umtriebiges Leben, das Stadlober und Krause Zwieback wechselnd vor uns ausbreiten und sich dabei nach Herzenslust auf der mit kleinem Lamellenvorhang (später zur roten Fahne umfunktioniert) abgetrennten Bühne austoben. Stellwände, ein altes Sofa und ein großer Sessel im Bauhausdesign werden ständig kreativ umgruppiert. Man bedient sich dadaistischer Wortakrobatik. Jung verkehrte in den 20er Jahren in künstlerischen Kreisen um Raoul Hausmann und John Heartfield. Stadlober mimt dazu mit Papierbahnen umwickelt den Züricher Dada-Priester Hugo Ball.

Aus der KPD ausgeschlossen gründete Jung 1920 die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands und kaperte mit einem Mitstreiter einen Fischdampfer, um in die Sowjetunion zu gelangen und Lenin von der Aufnahme seiner Partei in die Komintern zu überzeugen. Was ihm natürlich wie auch so vieles andere nicht gelang. In Deutschland kurz inhaftiert, wird er später aus den Niederlanden in die Sowjetunion abgeschoben und beginnt dort ein neues Projekt, den Aufbau der Zigarettenfabrik „Solnze“ in Tschudowo bei Nowgorod. Ein prägendes Erlebnis und Gefühl von Heimat. Stadlober beschreibt es mit dem gesungenen Schlachtruf nach „Mehr Tempo, mehr Glück, mehr Macht“. Ein Bekenntnis zum unaufhaltsamen Fortschritt als Wegbereiter des Glücks, zu dem man die Arbeiter dann allerdings doch auch zwingen muss. Ein überraschender Feueralarm im HAU kommt da schon fast als prophetischer Ausbremser eines unermüdlichen Zwangs zur Aktion daher. Zwang ist aber Jungs Sache nicht. So wie der Abend im zweiten Teil dann auch mehr zur Ruhe kommt, melodischer wird und die andere Seite zeigt: den sein Scheitern reflektierenden Menschen als „Torpedokäfer“, wie der Arbeitstitel von Jungs Autobiografie mit dieser Erzählung lautet, aus der Krause Zwieback kurze Passagen spricht. Jung führt auch in der Nazizeit ein Leben auf der Flucht, muss immer wieder neu anfangen, sich mit verschiedensten Jobs durchschlagen, nimmt neuen Anlauf „und fällt und kriecht und fliegt und fällt“. Auch eine in den 1990er Jahren gegründete anarchistische Literatenkneipe im Prenzlauer Berg trägt diesen Namen und vertreibt im BasisDruck veröffentlichte Schriften.

Dass es an diesem Abend nicht zur einseitigen Verklärung kommt, dafür sorgen auch das Tempo rausnehmende Einspielfilme, in denen die Schauspielerin Corinna Harfouch (auch Lebenspartnerin von Wolfgang Krause Zwieback) die Ehefrauen Franz Jungs spielt und spricht, deren Leben mit dem von Franz Jung mehr oder minder verhängnisvoll verbunden waren. Das sind wiederum für sich gesehen ebenfalls kleine Erzählungen von einerseits Bewunderung, der Suche nach Glück und Gemeinschaft und dann auch wieder vom Resümieren eines Scheiterns. Für einen besonders nachdenklichen Moment sorgt das tragische Schicksal von Jungs Tochter Dagny, der auch ein Song der Sterne gewidmet ist, und an deren Tod 1945 in der psychiatrischen Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses in Wien Jung sich schuldig fühlte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wagt er einen Neuanfang in den USA, kehrt dann aber, wie er es selbst bekannte, als „angetriebenes Strandgut“ nach Deutschland zurück. Geborgen hier für einen nur kurzen zweistündigen Abend. Die Franz-Jung- Werkausgabe ist in der Edition Nautilus erschienen.
Stefan Bock - 16. November 2018
ID 11047
DIE TECHNIK DES GLÜCKS - EINE FRANZ-JUNG-REVUE (HAU2, 14.11.2018)
Künstlerische Leitung: Annett Gröschner und Hanna Mittelstädt
Regie: Rosmarie Vogtenhuber
Raum, Film: Constanze Fischbeck
Kostüm: Katja Schmidt
Kamera: Siska
Textfassung: Annett Gröschner und Hanna Mittelstädt, Rosmarie Vogtenhuber unter Verwendung von Texten Franz Jungs
Technische Leitung: Maximilian Wegner
Mit: Wolfgang Krause Zwieback, Robert Stadlober und Corinna Harfouch (im Film)
Live-Musik: Die Sterne (Christoph Leich, Frank Spilker, Dyan Valdes, Thomas Wenzel)
Premiere im HAU Hebbel am Ufer: 14. November 2018
Weitere Termine: 16., 17.11.2018


Weitere Infos siehe auch: https://www.hebbel-am-ufer.de/


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