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Hans Castorp (Josa Butschkau) umklammert Pribislav Hippe (Denis Merzbach) in Der Zauberberg am Theater der Keller | Foto © Niklas Berg

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Ein von unten hell erleuchteter Baum im Mittelpunkt der kargen, ebenerdigen Bühne dient als prägnantestes Element. Augenscheinlich ein Lindenbaum hängt nichtsdestotrotz an ihm die verbotene Frucht, der Apfel, der auch bald verspeist wird. Schon vor Beginn stehen die sieben jungen Akteure nebeneinander aufgereiht an der Wand. Sie sind eher dünn mit Seidenhemden oder Tüchern bekleidet, rechts außen trägt ein Mann eine schwarzer Armschlinge über freiem Oberkörper.

Anders als Christiane Pohle mit ihrer Der Zauberberg-Inszenierung von 2014 am Schauspiel Stuttgart übersetzt Charlotte Sprenger Thomas Manns Werk am Theater der Keller recht frei in ansprechende Bilder und packende Szenerien. Auch sie kürzt die tausendseitige Vorlage von 1924 stark und setzt eigene Akzente. Gerahmt wird die Vorführung durch das Lied Stars, mit tiefer Stimme markant interpretiert von Nina Simone. Der Song erklingt anfangs von Band, während die Akteure langsam händchenhaltend und synchron mit ausdruckslos nach vorne gerichtetem Blick auf die Zuschauer zuschreiten:


„...Some make it when they're old/ (Perhaps they have a soul they're not afraid to bare/ or perhaps there's nothing there)/ Stars, they come and go, they come fast they come slow / They go like the last light of the sun, all in a blaze / And all you see is glory/ But most have seen it all…”


Beim Voranschreiten müssen ein Mann und eine Frau der Gemeinschaft kurz ihre Hände lösen, um am Baum vorbeizukommen. Gleich darauf reichen sie, einander zugewandt, ihre Hände wieder. Eine Andeutung des Motivs der ersten Menschen am Baum der Erkenntnis? Stars handelt lakonisch von der Vergänglichkeit allen Ruhms und allen Lebens. Nachdem sich die Darsteller am Bühnenrand umgedreht haben, taumeln sie und gleiten zu den Klängen Nina Simones der Reihe nach wie leblos zu Boden. Am Ende von Charlotte Sprengers Inszenierung wiederholt sich diese choreographische Szene zu Stars von Nina Simone, diesmal jedoch auf berührende Weise nur mit einer Person. Da haben sich nämlich bereits einzelne von der Gemeinschaft abgesondert. Auf die Schlussszene folgt Dunkelheit und der Song wird ganz wiedergegeben.

Thomas Manns Bildungsroman handelt von einer Sinnkrise des bürgerlichen Lebens. In Zeiten der Klima- und Coronakrise erscheint der Stoff nach fast hundert Jahren wieder aktuell. Der Zauberberg spielt in Davos in den Schweizer Alpen. Hans Castorp, die anfangs 22jährige Hauptfigur der Geschichte, ist ein Hamburger Patriziersohn. Er verbringt sieben Jahre in einem Sanatorium für Lungenkranke, ohne selbst betroffen zu sein. Die Geschichte handelt von Erschöpfung und der Verletzlichkeit bürgerlicher Ideale. Castorp wird mit existentiellen Sehnsüchten, Trieben und Ängsten konfrontiert.

In Charlotte Sprengers Adaptation wirkt Hans Castorp (ausdrucksstark: Josu Butschkau) zunächst verwirrt und überfordert. Der blasse Neuling verhält sich gegenüber den anderen, teils recht exzentrischen Figuren anfangs aufgeregt und neugierig. Es gibt vor Ort Gemeinschaftsangebote, freie Liebe, Unterhaltung, regelmäßige Mahlzeiten. Die Ärztin Dr. Behrens (Brit Purwan) ist liebenswürdig und bestimmt. Schnell passt Castorp sich in den Alltag des Sanatoriums ein, agiert jedoch zunehmend gleichgültig und eher passiv gegenüber den schwer deutbaren Avancen der anderen.

Da gibt es die vitale Clawdia Chauchat (Kara Schröder), die selbstbewusst als barbusiges Aktmodell posiert und Hans munter nachstellt. Dann ist da Pribislav Hibbe (Denis Merzbach), der Hans gemeinschaftliche Aktivitäten mitunter zärtlich näherbringt und mit ihm das Sanatorium verlassen möchte. Doch ans frivole grenzenden Flirts werden nicht mit Gewissheiten belohnt. Figuren nähern sich nur vordergründig einander an. Sätze geraten ins Stocken, reißen ab, sind plötzlich sinnentleert. Sie schwinden dahin, ganz wie die routinehaften Liegekuren oder Seeleninnenschauen im Sanatorium. Die Aura ist stets verhangen. Die Figuren drehen sich fortwährend im Kreis oder gehen auf und ab. Dabei lauschen sie dem Klavierspiel zu Robert Schumann, singen mit verteilten Stimmen Take on me von A-HA oder rappen wetternd ein Lied über Gesellen. Ein Kellner (Frank Casali) verlässt nach eiliger Bestellung den Gast betont langsam durch den Raum schleichend, um später im gleichen Schneckentempo nichts mitzubringen.

Die Gedanken zweier Todesengel (Katharina Gieron, Hannah Holthaus) kreisen um die Endlichkeit allen Seins und die Gewissheit des Todes. Wenn wir das Heute denken, ist es morgen bereits Geschichte. Doch kehren alle Imaginationen und Gedanken wieder? Und führen Denkmäler Traditionen fort? Ein assoziationsreicher, tiefgründiger und trotzdem witziger Theaterabend.



Der Zauberberg am Theater der Keller | Foto © Niklas Berg

Ansgar Skoda - 10. Oktober 2021
ID 13200
DER ZAUBERBERG (Theater der Keller, 05.10.2021)
Regie und Ausstattung: Charlotte Sprenger
Fassung und Dramaturgie: Julia Fischer
Regieassistenz: Feline Przyborowski
Kostümassistenz: Johanna Fechner
Gesangsarrangement: Philipp Plessmann
Mit: Josa Butschkau, Frank Casali, Katharina Gieron, Hanna Holthaus, Denis Merzbach, Brit Purwin und Kara Schröder
Premiere war am 28. August 2021.
Weitere Termine: 14.-16.11.2021


Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-der-keller.de/


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