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Boygroup löst

Entsetzen aus



Clockwork Orange am Theater der Keller in Köln | Foto © MEYER ORIGINALS

Bewertung:    



Die Augen der fünf Darsteller sind zu Anfang weit geöffnet, ihr Blick ins Publikum ist kalt, berechnend, lüstern und mitleidlos starr. In Charlotte Sprengers Inszenierung von Anthony Burgess‘ dystopischen Roman Clockwork Orange von 1962 verkörpern anfangs alle fünf Darsteller abwechselnd Opferrollen. Gleichzeitig spielen sie auch das gewalttätige System um sie herum. Wenn sie etwa als vier gegen einen gemeinsam stark sind und ihre Täterrolle genüsslich auskosten, löst sich die Gewaltszene oft durch einvernehmliches Lachen mit dem Opfer auf. So erscheint alles wie ein großes Spiel. Die jungen Darsteller schlüpfen stets in neue Rollen, singen a-capella, posieren oder sprechen als Chor.

Die Bühne wirkt wie eine Gummizelle. Grellgelbe Noppenschaumstoffmatten liegen auf dem Boden und hängen an den umliegenden schwarzen Wänden verteilt (Bühne: Thomas Garvie). Alex und seine Gang, die Droogs, tragen nicht nur einen Schlagstock, sondern auch stylische, aufeinander abgestimmte Klamotten in Blau und Magenta. Einer der Darsteller hat ein eng sitzendes Bolero-Jäckchen an, einen anderen schmückt eine hautenge Latex-Leggins (Kostüme: Janina Warnk). Effektvolle Spannungen zwischen den Figuren wirken teilweise improvisiert, deuten aber auch in der Luft liegenden Narzissmus und lauernde Brutalität an. Ästhetisierte Gewalt birgt hier auch einen guten Schuss Homoerotik. So gefallen die Gangmitglieder einander ganz offensichtlich. Später entblößen sich die fünf jungen Männer im Zuge einer Vergewaltigungsszene komplett und knutschen bei abgedunkeltem Licht miteinander herum.

Sein aggressives, brachiales und skrupelloses Verhalten und seine lustvollen und adrenalinstimulierenden Menschenjagden befördern Alex (ausdrucksstark: Denis Merzbach) schließlich in die Zelle, in der er bereits anfangs schon liegt. Doch er lebt in einer werte- und haltlosen, unmoralischen Welt. Er wird als Versuchsobjekt für das brutale Konditionierungsexperiment „Ludovico“ ausgewählt. Aus dem choreographisch eindrucksvoll auf der Bühne umgesetzten Experiment entlassen, erscheint Alex nunmehr als Marionette, dessen Strippen nun von anderen gezogen werden. Fortan scheint es ihm unmöglich, sich gegen körperliche Angriffe zu wehren. Nachdem ihm von den Ärzten völlige Freiheit attestiert wird, krümmt er sich auf der Bühne antriebslos zusammen. Bald steht er auf und starrt minutenlang schweigend, unbeweglich ins Publikum. Obwohl das Theater so weitestgehend zum Erliegen kommt, agiert Denis Merzbach hier sehr eindrücklich und erinnert mit festem oder verunsichertem Blick, der den der Zuschauer spiegelt, fast ein bisschen an die prominente, serbische Performance-Künstlerin Marina Abramović, die im Rahmen einer bekannten Aktion stundenlang still, konzentriert und meist ausdruckslos ihre Besucher anguckte.

Die 28-jährige Regisseurin Sprenger lässt Kreativität auch bei der Musikauswahl walten. Sie sucht ja gerne bekannte Girlgroup-Hits als Soundrack in ihren Stücken aus. In Draußen vor der Tür durfte noch Elias Reichert als Beckmann zu einer verfremdeten Version von „Survivor“ (Destiny’s Child) unter eine Plastikplane tauchen; in Clockwork Orange erprobt die Droogs-Boygroup nun eine lässig-synchrone Choreographie zu „Say you’ll be there“ von den Spice Girls. Auch das Klettern der Darsteller über die Zuschauerbänke ähnelt dem des Beckmann-Akteurs aus Draußen vor der Tür. Nur tun die fünf Darsteller das in Clockwork Orange sogar im Stockdusteren und fassen dabei auch die Zuschauer an. Welche stimmungsvolle Provokation, die bei einigen in Zuschauerraum auch angespannte Rufe auslöst. Im durchweg eher jüngeren Publikum erklingen vereinzelt gespielt empörte Frauenstimmen „Da war eine Hand in meinem Schritt“, „Endlich mal wieder angefasst“ oder „Ruhe bitte, ich will den Moment genießen“, und es ertönen auch provokante Schluckauf-Geräusche. Auch ein Trommler, eine Säuberungstruppe und eine Schnapsverköstigung lösen beim Publikum heitere Ausgelassenheit aus.

Clockwork Orange ist gleich für zwei prominente lokale Theaterpreise nominiert. Die Inszenierung tritt bei der Theaterpreisverleihung am 3. Dezember gegen fünf andere nominierte Produktionen für den Kölner Theaterpreis und gegen zwei weitere Produktionen für den Kurt-Hackenberg-Preis 2018 an. Die Bühnenfassung von Julia Fischer und Charlotte Sprenger wird eine der bekannteren Produktionen der aktuellen Spielzeit bleiben, bevor die Spielstätte in der Südstadt nach 45 Jahren umziehen muss. Dann muss das etablierte Privattheater in der Kleingedankenstraße leider Luxuswohnungen im Sinne der Gentrifizierung weichen. Ob dadurch eine prägende Ära zuende gehen könnte, möge sich zeigen.



Clockwork Orange am Theater der Keller in Köln | Foto © MEYER ORIGINALS

Ansgar Skoda - 4. November 2018
ID 11015
CLOCKWORK ORANGE (Theater der Keller, 01.11.2018)
Regie: Charlotte Sprenger
Bühne: Thomas Garvie
Kostüme: Janina Warnk
Dramaturgie: Barbara Kastner
Mit: Markus J. Bachmann, Frank Casali, Liliom Lewald, Denis Merzbach und Madieu Nguyen
Premiere war am 18. Januar 2018.
Weitere Termine: 30.11. / 05., 27.12.2018 // 04., 18.01.2019

Weitere Infos siehe auch: http://www.theater-der-keller.de


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