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58. THEATERTREFFEN

Ob digitaler Livestream oder

TV-Aufzeichnung, das zweite

rein virtuelle THEATERTREFFEN

kämpft mit der Technik,

Corona und anderen Krisen

Ein Fazit



Auch in diesem Jahr fand das Berliner THEATERTREFFEN wegen der andauernden Corona-Pandemie wieder nur virtuell statt. Wer es ohne den körperlichen Besuch im Haus der Berliner Festspiele nicht aushielt, konnte zumindest einen Avatar in die neugeschaffene Plattform Berliner Festspiele Digital schicken. Aber wie virtuelle Burger in einem virtuellen Festspielgarten nicht wirklich munden, ist auch eine rein gestreamte 10-Auswahl nur ein ungenügender Ersatz für die Live-Präsenz vor Ort.

Nun war ja die Auswahl wegen der herrschenden Reisebeschränkungen und immer nur kurzen Lockerungsfenstern sicher nicht einfach. Nicht alle Mitglieder der Jury konnten alle Inszenierungen live vor Ort in Augenschein nehmen. Dennoch hat man sich wie in jedem Jahr auf 10 bemerkenswerte Inszenierungen einigen können. Zum zweiten Mal galt auch die selbstverpflichtende Frauenquote von 50 Prozent, die mit 6 zu 4 wieder übererfüllt wurde. Rein digital für das Internet geschaffene Inszenierungen haben trotz der Corona-Beschränkungen für reine Bühnenaufführungen die Auswahl nicht dominiert. Nur zwei Inszenierungen sind rein für das Internet entstanden, obwohl auch da immer noch PerformerInnen bzw. SchauspielerInnen auf der Bühne standen. Die bevorzugte Variante des Livestreams, sprich der Liveübertragung aus dem Theater ins Netz, die oft nicht ganz ohne technische Probleme vonstatten geht und somit ein eher ungewünschtes Livegefühl der ganz anderen Art vermittelt, hielt sich mit den vorab aufgezeichneten Übertragungen die Waage.





Erstaunlich ist, dass es neben den Theaterhochburgen aus Berlin, Hamburg, München und Wien auch drei Produktionen der Freien Szene in die Auswahl geschafft haben, die sonst eher unter dem Radar der Jury laufen würden. Gänzlich ungewöhnlich ist allerdings auch das nicht, aber sicher befördert durch das gänzliche Fehlen der ost- und westdeutschen Theaterprovinz, die es unter den erschwerten Bedingungen der Pandemie nicht schaffen konnte, sich in den Fokus der Jury zu spielen. Das alles mag Grund dafür sein, dass dieser so bedeutende Theaterevent nicht zu glänzen vermochte und auch die kritischen Diskussionen zur Juryauswahl eher in zugeschalteten Chats und den sozialen Medien verpufften. Bemerkenswert dabei nur der Drang das digitale Festival als niederschwelliges Angebot für neue Zielgruppen zu deklarieren. Nur dumm, wenn dabei die alten aus dem Blickfeld geraten.

*

So sicher auch bei der Produktion NAME HER. Eine Suche nach den Frauen+, die die junge Regisseurin Marie Schleef für das Berliner Ballhaus Ost entwickelt hat. Eine lustig leichte Lecture Performance der sichtlich aufgedrehten Schauspielerin Anne Tismer, die mit viel Lust am fast pausenlosen Vortrag die von den Macherinnen auserwählten Frauen und ihre Verdienste für die Menschheit aus dem Orkus des Vergessens holt. Leider gewinnt der 6stündige Abend nicht mit der Zahl der Namen an Interesse, zu kurz angeschnitten sind meist die Geschichten um die einzelnen Persönlichkeiten, so dass kaum Zeit zum Nachdenken bleibt, außer um die Fülle der über die Jahrhunderte verschwiegenen und vergessenen weiblichen Präsens in Kultur, Politik und Wissenschaft staunend zur Kenntnis zu nehmen. Eine lässige Powerpoint-Präsentation vor drei Splittscreans, die sicher ihre Würdigung verdient hat, aber schon wegen ihrer Länge den Weg zum Publikum verfehlt.

Auch 12 Stunden sind immerhin ein halber Tag, den es braucht, um die Produktion des PerformerInnen-Kollektivs Gob Squad Show Me A Good Time in Gänze zu schauen. Eine Reaktion auf das Fehlen des Publikums, das Verharrenmüssen vor leeren Rängen und die Suche nach dem Theater außerhalb dessen Mauern. Eine Reflexion über einen schon zu lang andauernden Zustand des Unbehagens auf beiden Seiten, der allerdings auch bald wieder in Vergessenheit geraten sein wird.

Ganz anders da die nur 1 Stunde dauernde Tanzperfpormance SCORES THAT SHAPED OUR FRIENDSHIP, ein Projekt von und mit Lucy Wilke und Paweł Duduś für die Münchner Off-Bühne schwere reiter. Eine Performance über Körperpräsenz in Zeiten, in denen das oft nicht möglich ist. Dazu kommt, dass die mit spinaler Muskelatrophie geborene Schauspielerin und Sängerin Lucy Wilke mit dem queeren Tänzer Paweł Duduś in einer geschützten Theatersituation, die Möglichkeiten einer intimen Körperlichkeit ausloten, die in der Realität kaum vorkommen würde. Zur Musik von Kim Twiddle entwickelt das Spiel der beiden über 7 Kapitel einen Spannungsbogen intensiver Körperlichkeit auf Augenhöhe, dem man sich schwer entziehen kann.



SCORES THAT SHAPED OUR FRIENDSHIP mit Lucy Wilke und Pawel Dudus | Foto (C) Martina Marini


Der tt-Partner 3sat hatte sich drei eher konventionelle Inszenierungen aus der 10er-Auswahl ausgesucht und für die Ausstrahlung und den Abruf über die ZDF-Mediathek ausgesucht. Bemerkenswert hier zumindest bei allen dreien das Bühnenbild. Maria Stuart, im letzten Jahr am Deutschen Theater Berlin in der Regie von Anne Lenk entstanden und im Herbst noch vor Publikum aufgeführt, macht die Corona-Not zur Tugend und spielt in einem Setzkastenbühnenbild auf Abstand, die Isolation der einzelnen Figuren zueinander aus. Das hat zumindest ästhetisch gesehen einen gewissen Mehrwert, wirkt aber in der TV-Aufzeichnung nun gleich doppelt statisch.

Auch die Inszenierung vom Wiener Burgtheater, für die Regisseurin Barbara Frey das Stück Automatenbüfett von der in Vergessenheit geratenen Autorin Anna Gmeyner wieder ausgrub, hat sicher höchstens dafür eine Erwähnung verdient. Was einem das 30er-Jahre-Zeitstück heute noch zu sagen hätte, bleibt die im Horváth-Stil gemächlich vor sich hin volkstheaternde Typenschurre trotz einiger Burgtheaterstars allerdings größtenteils schuldig. Ökonomie, Ökologie und Politik im Frauenbild der Zeit. Eine damals sicher kapitalismuskritische Gesellschafssatire verpufft vor dem eindrucksvollen Automatenbühnenbild von Martin Zehetgruber zur lahmen Provinzposse.

Nicht sehr viel Besseres lässt sich über Stefan Bachmanns Inszenierung von Max Frischs düsterer Moritat Graf Öderland sagen. Durch einen Trichterschlund von Olaf Altmann zwängt sich das Personal zu einem szenischen Albtraum mit Musik. Thiemo Strutzenberger verschwitzt an der Rampe seinen somnambulen Staatsanwalt auf gesellschaftlichem Amoklauf mit Axt, bis das Ensemble zu musikalischen Stakkato-Wortkaskaden übergeht. Ästhetik und Regieeinfall gehen auch hier über den Mut zur gesellschaftskritischen Neuinterpretation.

Kaum ein Wort muss man über die beiden Einladungen aus dem seit 2019 von Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann kollektiv geführten Schauspielhaus Zürich verlieren. Die szenische Medea* -Meditation mit Maja Beckmann in der Regie von Leonie Böhm und das emotionsgeladene Konversationsstück Einfach das Ende der Welt über eine Rückkehr des verlorenen Sohns in den provinziellen Schoß der Familie inszeniert von Christopher Rüping zeigen viel Experiment, noch mehr Improvisation, aber zu wenig Kunst. Eine nicht nur Streaming-technische Zumutung.

Zumindest zwei weitere Lichtblicke hat das 58. Theatertreffen doch noch zu bieten. Sebastian Hartmann lotet in seiner Adaption von Thomas Manns Roman Der Zauberberg, die nicht wie geplant vor Publikum herauskommen konnte, die digitalen Möglichkeiten eines Livestreams mit allen ästhetischen Möglichkeiten wie Kamera- und Videoeinsatz, Musik und Performance-Kunst konsequent aus. Eine intensive Meditation über Leben und Tod, existentielle Bedrohung, menschlicher Gewalt und Ohnmacht in assoziativen Wort- und Bildfolgen. Als theatraler Parforceritt kommt auch die Uraufführung des neuen Stücks von Rainald Goetz durch die Intendantin des Deutschen SchauSpielHaus Hamburg Karin Beier daher. In Reich des Todes reflektiert der Autor die Ereignisse um die islamistischen Anschläge vom 11. September 2001 und den sich anschließenden Krieg gegen den Terror mit den Entgleisungen um das US-Foltergefängnis in Abu Ghuraib. Die ProtagonistInnen tragen allerdings keine Namen von US-Politikern, sondern deutsche, die auch von Personen aus dem rechtspopulistischen Lager und ehemaligen Nazigrößen ausgeliehen sind. Dieser provokante Vergleich der US-Verbrechen mit der deutschen Geschichte macht diese Politfarce zur allgemeinen Bestandsaufnahme demokratischer Verhältnisse im Umbruch. Eine böse Bühnen-Clownerie, die unterstützt von Video- und Archivbildern das Verwischen von Opfern und Tätern zeigt, die Frage nach Schuld und Strafe stellt und in eine mehrstimmige orchestrale Text-Musik-Collage mündet.



Der Zauberberg am DT Berlin | Foto (C) Arno Declair


Was trotz Corona-Krise bleibt, die Theaterblase dreht sich in gewohnter Weise weiter um sich selbst und erzeugt ihre eigenen Krisen. Alte Macht, die nicht weichen will, gegen jungen Aktionismus, der oft über das Ziel hinausschießt. Auf der Strecke bleibt da auf Dauer sicher nicht nur die Kunst. Eins aber ist sicher, auch nächstes Jahr wird es ein Theatertreffen geben, in welcher Form auch immer.


Stefan Bock - 25. Mai 2021
ID 12931
Weitere Infos siehe auch: https://www.berlinerfestspiele.de/theatertreffen


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