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nachDRUCK # 6

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Theaterkritik

Endstation

Sackgasse



Bewertung:    



„Sie dürfen nicht den Fehler machen, mit Gewalt etwas zu verstehen.“ gab Autor Tennessee Williams den Zuschauern seines 1953 geschriebenen und bis heute kaum gespielten Stücks Camino Real als „Gebrauchsanweisung“ mit. Camino Real, eine eher surreale Straße im amerikanisch-mexikanischen Grenzland, entpuppt sich für dessen Besucher nicht etwa als der Königsweg, sondern führt für die hier Gestrandeten geradewegs in eine Sackgasse. Die „Hauptstraße des Lebens“ endet also unausweichlich im Tod. Für Williams stellte das Stück „nicht mehr und nicht weniger als meine Vorstellung von der Zeit und der Welt, in der ich lebe“ dar. In 16 Stationen treten ein abgehalfterter Boxer, ein Pedant zur Kameliendame, die Zigeunerin Esmeralda, deren Jungfräulichkeit im Mondlicht immer wieder neu ersteht, Lord Byron, Casanova, Don Quichote und andere literarische Gestalten auf.

Soweit, so gut und schön verworren. Der Idee, dem Stück etwas heutigen Realismus einzuhauchen, ist allerdings auch Regisseur Sebastian Nübling in seiner Inszenierung an den Münchner Kammerspielen nicht erlegen. Auf der Plaza, Hauptspielort des Stückes, stehen kein Hotel, Pfandhaus oder gar Bordell, sondern nur zwei riesige, herzige Kuscheltiere mit großen Augen. Es blinkt eine Leuchtreklame, die „forever“ verheißt, und es winkt uns ein Mann im Hasenkostüm dauerlächelnd zu, bis ein Schuss fällt und das Häschen in sich zusammensinkt. Wer sich in diesen Nichtort Camino Real verirrt, landet in einer Art Fegefeuer oder Transitraum, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint, außer den Tod.

In diesem von Wüste (Terra Inkognita) umgebenem Nirgendwo tummeln sich jede Menge einsame, verlorene Seelen, die auf ihre Auferstehung warten. Ein abgehalfterter Casanova (Oliver Mason) ohne Geld, dem von seiner letzten Angebeteten, der auch nicht mehr ganz jungen Marguerite (Wiebke Puls), Hörner aufgesetzt werden, das ältere Paar Lady und Lord Mulligan (Alice Gartenschläger und Stefan Merki) sowie die Huren Esmeralda (Sandra Hüller) und Rosita (Çiğdem Teke). Den Eintritt bezahlen sie mit ihrer „Verzweiflung! Bar auf den Tisch des Hauses“ . Während sie sich aus Angst vor der Einsamkeit aneinanderklammern. Alle sind müde, wirken überspannt oder warten vergeblich auf Geldsendungen oder ihre Papiere, um weiter zu kommen. Nur den begehrten Platz im Flugzeug „Fugitivo“ (Flüchtling) kann oder will niemand erreichen.

Wie verwirrte, fremdgesteuerte „Schattengestalten“ bewegen sich alle in genau vorgegebenen Bewegungsabläufen. Regisseur Nübling übersetzt das zusammen mit Alice Gartenschläger in eine immer wiederkehrende Choreografie mit XXL-Karo-Kunststoffreisetaschen. Den Takt zu diesem Tanz nach eintöniger Technomusik gibt der ominöse Hotelbesitzer Gutman (Jochen Noch) vor, der mit dem an ihm hängenden Mikro die einzelnen Stationen ansagt. Der Austausch wahrer Gedanken ist hier nicht gern gesehen. Wer ausschärt, kein Geld mehr hat, oder es nicht schafft, aus freien Stücken zu gehen, wird irgendwann eliminiert. Die Reste kehrt ein brutal aussehender Müllmann (Tim Erny) zum Recycling von der Straße. Dazu philosophiert Michael Tregor mal als Don Quichotte, mal als düster romantischer Dichter Lord Byron von Gott und dem Herzen in den Eingeweiden seines Geliebten.

Zu den ganzen Ex-Gestalten gesellt sich irgendwann auch der Boxer und Ex-Champ Kilroy, der ein zu großes Herz besitzt. Risto Kübar, bereits in Nüblings letzter Williams-Inszenierung Orpheus steigt herab als Nachtclub-Sänger Val ein merkwürdig somnambuler Outsider, stellt auch diesmal wieder eine von außen in das Gefüge eindringende Figur dar. Er wirkt dürr und mit nackten Oberkörper, die Arme mit den Boxhandschuhen immer wieder ausbreitend, fast wie eine leidende Jesusfigur. Seine Gegenwehr als Mann mit freiem Willen muss aber auch er bald aufgeben. Der Geldbörse beraubt, bleibt ihm nur, sich bei Gutman als „Dummer August“ zu verdingen und selbst in das Hasenkostüm zu steigen.

Tod und Auferstehung wird Kilroy schließlich durch Esmeralde (die zwischen Puffmutter, Heiliger Hure und herzzerreißender Pop-Sängerin hin- und herswitcht) zuteil. Sie erwählt den Ex-Champ zum Helden ihrer allabendlich wundersam wiederkehrenden Jungfräulichkeit mit anschließender Deflorierung. Bezahlen muss er mit seinem großen Herzen. In den Szenen der behutsamen Annährung beider zwischen naivem Smalltalk und politischen Fragestellungen erreicht die Inszenierung eine Intensität, die sie sonst in ihrer hastigen Abhandlung der einzelnen Stationen des Plots nicht erreichen kann. „Nothing seams real“, sagt einmal der Boxer Kilroy. Tennessee Williams sehr symbolisch angelegte Parabel über die Einsamkeit und Ausweglosigkeit des Alterns versteht Sebastian Nübling als rastlose Unbehaustheit heutiger Menschen, immer unterwegs auf der Suche nach Glück und Liebe. Ein ewiger Kreislauf auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten - morgens, mittags, abends, wie es Sandra Hüller singt. Ein Ausweg aus dem nicht enden wollenden Albtraum der Sackgasse Camino Real führt hier nur über den Umweg Hoffnung.



(C) Münchner Kammerspiele

Stefan Bock - 7. April 2015
ID 8554
CAMINO REAL (Münchner Kammerspiele, 05.04.2015)
Regie: Sebastian Nübling
Bühne und Kostüme: Eva-Maria Bauer
Musik: Lars Wittershagen
Licht: Stephan Mariani
Dramaturgie: Julia Lochte
Mit: Tim Erny, Alice Gartenschläger, Sandra Hüller, Risto Kübar, Oliver Mallison, Stefan Merki, Jochen Noch, Wiebke Puls, Çiğdem Teke und Michael Tregor
Premiere war am 28. März 2015
Weitere Termine: 16., 24., 28. 4. / 11., 23., 31. 5. 2015

Weitere Infos siehe auch: http://www.muenchner-kammerspiele.de


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de



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