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100. Geburtstag von Georg Tabori

24. Mai 2014 - Berliner Ensemble

DIE KANNIBALEN

von Georg Tabori



Zwanzig Jahre, nachdem George Tabori seinen abgelehnten, vom Schicksal des in Auschwitz umgekommenen Vaters handelnden Roman Pogrom vernichtet hatte, widmete er sich in den 1960er Jahren wieder diesem Thema. 1968 wurde sein Theaterstück The Cannibals in New York uraufgeführt und feierte ein Jahr später am Berliner Schillertheater unter dem Titel Die Kannibalen (Übersetzung: Peter Sandberg) seine viel beachtete Deutschlandpremiere. „Es darf in Ansehung des Schlimmsten gefragt werden, darf mitgefühlt, darf sogar gelacht werden.“ schrieb damals der Berliner Theaterkritiker Friedrich Luft. Die letzte, sehr rasante Inszenierung von Taboris Stück zum schwierigen Thema des Kannibalismus unter hungernden KZ-Häftlingen fand zu seinem 80. Geburtstag 1994 im Carrousel Theater (heute Theater an der Parkaue) statt. Im Jahr des 100. Geburtstags des jüdischen Dramatikers hat es nun Regisseur Philip Tiedemann mit sanfter, tragikomischer Hand am Berliner Ensemble neu inszeniert. Die Premiere war im März. Am letzten Wochenende ist es wieder im Rahmen eines Festes für Georg aufgeführt worden.

*

Zum Thema Mitfühlen sei jedoch gesagt, dass das vermutlich nicht die Intension Taboris beim Schreiben der Kannibalen war. Zumindest lässt sich feststellen, dass seine Versuchsanordnung im Stück, bei der zwölf Söhne und Überlebende die Geschichte des Todes und Speisung der Leiche eines Mithäftlings rekonstruieren, stark an Brechts episches Theater erinnern. Tabori, von Brecht beeinflusst, nutzt hier tragische und komische Momente gleichermaßen zur Vermenschlichung der Leiden und Bewältigung der Trauerarbeit. Eine weitere wichtige Quelle für Taboris Stück war, da er selbst keine KZ-Erfahrungen hatte, die Erinnerungen des Auschwitz-Überlebenden Primo Levi, die er in seinem Bericht Ist das ein Mensch? niederschrieb. Darin heißt es sehr eindrücklich: „Aber wer könnte sich vorstellen, einmal keinen Hunger zu haben? Das Lager ist der Hunger. Wir selber sind der Hunger, der lebende Hunger."

Am Berliner Ensemble treten die Darsteller nun nach und nach aus dem Dunkel der Bühne auf einen mit rotem Vorhang eingerahmten, schrägen Podest und zeichnen mit Kreide die Umrisse einer Lagerbaracke auf. Während alle beim Schlafen in ihren Kojen vom Essen träumen und vergangene Genüsse herbeifantasieren, kaut im Vordergrund der fette Häftling Puffi und ehemalige Gänseleberfabrikant (Detlef Lutz), auch Lieblingsobjekt der Aufseher genannt, an einem verborgenen Stück Brot. Die davon erwachten Hungernden erschlagen ihn für seinen Mundraub. Anstatt Puffi zu begraben, wie es der menschliche Anstand verlangen würde, kommt der Medizinstudent Klaub (Sabin Tambrea) auf die Idee, gemäß des Nachrufs „Er speiste Millionen“ von Onkel (Martin Seifert als Klaubs moralischer Widerpart), Puffi einfach im Pisseimer zu kochen und zu essen. Klaubs Referat über die Verdaulichkeit von Menschenfleisch und dessen Diktum „Fleisch ist Fleisch, und ich will existieren.” kann Onkel nur noch die Dostojewski-Worte: „Wenn Gott tot ist, dann ist alles erlaubt." entgegensetzen.

Während alle ungeduldig auf das Mal warten und blubbernde Kochgeräusche nachahmen, entspinnt sich ein moralischer Schlagabtausch zwischen dem feinsinnigen Menschen Onkel (Taboris Vater Cornelius nachempfunden, dem Tabori dieses Stück auch widmete) mit seinen reinen, weißen Handschuhen sowie Klaub und dem Koch Weiss (Stephan Schäfer), die ganz pragmatisch den Hunger in den Vordergrund stellen. „Die Friedhöfe sind voll von Leckerbissen.“ In kleinen Zwischenmonologen berichten die Häftlinge/Söhne aus dem früheren Leben, der im KZ Umgekommenen und geben damit ihnen und ihrer Geschichte Gesicht und Stimme zurück. Die beiden Überlebenden Hirschler und Heltai (Axel Werner und Thomas Wittmann) unterhalten sich über die Schwierigkeit der rechten Erinnerung.

So bekommt hier jeder seinen Auftritt. Es gibt eine urkomische Showeinlage von Georgios Tsivanoglou als Zigeuner, der den Fall eines Leberwurstmörders zur erotischen Phantasie werden lässt. Und schließlich erscheint dann Onkel noch Gott persönlich als riesiger Schattenriss in Gestalt von Klaub, um ihn davon zu überzeugen, dass mit dem Gebot „keine ekeligen Sachen“ zu essen, wohl nicht Puffi Pinkus gemeint war. Die herkömmlichen Moralbegriffe werden angesichts der buchstäblichen Alternative "friss oder stirb" vollkommen ad absurdum geführt. Gott im Munde zu führen erweist sich hier fast noch unmenschlicher als zum Kannibalen zu werden. Die Häftlinge werfen Onkel in einer Art Prozess sogar vor, damals beim Transport nach Ausschwitz die Möglichkeit der Flucht durch das Verschwindenlassen eines Messers vereitelt zu haben.

Die Grenze zwischen Täter und Opfer scheint sich hier im KZ zu verwischen, würde Tabori nicht zum Schluss noch den SS-Mann und ehemaligen Gastwirt Schrekinger bei einer Selektion auftreten lassen. Tabori-Witwe Ursula Höpfner-Tabori räsoniert als in schwarz gewandeter „Engel des Todes“ über Tugend, Moral und den richtigen Umgang mit Juden. In einem schizophren anmutenden Zwiegespräch mit seinem Sohn, der ihn danach fragt, was er damals getan hat, windet sich Schrekinger mit der Aussage heraus, nur Befehle befolgt zu haben. Die Moral und Freiheit der Wahl ist hier wieder auf der Seite der Häftlinge, die einer nach dem anderen Schrekingers Befehl zu essen nicht befolgen und - zischend das Gasgeräusch nachahmend - in den Tod gehen. Die beiden Überlebenden täuschen zumindest das Essen an und können sich somit retten. Einsam stehen die zwei an der Rampe, während Schrekinger, auf dem Tisch hockend, gierig die Näpfe ausleckt. Es ist dies dennoch eine behutsame aber auch sehr eindrucksvolle Annäherung von Philip Tiedemann an Taboris Stück, das uns immer nur eine Ahnung von dem, was wirklich war, vermitteln kann, jedoch die Erinnerung daran wach hält.




Die Kannibalen am BE - Foto (C) Monika Rittershaus



Bewertung:    



Stefan Bock - 28. Mai 2014
ID 7863
DIE KANNIBALEN (Berliner Ensemble, 24.05.2014)
Inszenierung und Bühne: Philip Tiedemann
Kostüme: Margit Koppendorfer
Musik: Henrik Kairies
Dramaturgie: Hermann Beil, Dietmar Böck
Licht: Ulrich Eh, Steffen Heinke
Mitarbeit Bühne: Jan Freese
Mit: Axel Werner (HIRSCHLER, ein Überlebender), Thomas Wittmann (HELTAI, ein Überlebender), Martin Seifert (ONKEL), Sabin Tambrea (KLAUB, ein Medizinstudent), Georgios Tsivanoglou (DER ZIGEUNER), Stephan Schäfer (WEISS, der Koch), Uli Pleßmann (PROFESSOR GLATZ), Martin Schneider (GHOULOS, der Grieche), Winfried Goos (DER KLEINE LANG), Jonathan Kutzner (DER RAMASEDER-JUNGE), Marvin Schulze (DER STILLE HAAS), Detlef Lutz (PUFFI, ein fetter Mann), Ursula Höpfner-Tabori (SCHREKINGER, Engel des Todes) und Michael Kinkel (KAPO)
Premiere war am 28. März 2014
Weitere Termine: 6., 30. 6. / 9. 7. 2014


Weitere Infos siehe auch: http://www.berliner-ensemble.de/


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de



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