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Annika Mauer als die von Goethe verlassene Frau von Stein



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Der Dramatiker, Lyriker und große Essayist Peter Hacks wird heute nicht mehr allzu oft auf den großen Bühnen der vereinten Bundesrepublik gespielt. Zuletzt führten 2010 Jürgen Kuttner und Tom Kühnel sein DDR-Produktions-Stück Die Sorgen und die Macht ganz erfolgreich an den Kammerspielen des Deutschen Theaters auf. Ein weiteres, zeitloses Erfolgsstück ist aber mit Sicherheit das 1974 uraufgeführte Monodrama Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe. Nicht nur dafür umarmte den sozialistischen Dichter Hacks sogar das bürgerliche Feuilleton, und der verstorbene F.A.Z.-Herausgeber Frank Schirrmacher tönte 2008: „...er ist unser“. Wobei noch zu klären wäre, wen Schirrmacher eigentlich genau mit „unser“ meinte.

„Kommunismus ist, wenn Shakespeare verstanden wird.“ - verständlicher ist Peter Hacks nicht zu haben. Und das ist nur eines seiner vielen apodiktischen Bonmots, die der 2003 als wahrscheinlich letzter seines Schlages Verstorbene für die Nachwelt hinterlassen hat. Ein anderes lautet: „Haltungen kann man nicht erläutern; Haltungen nimmt man ein.“ Der Meister der sozialistischen Klassik ist vor allem für seine Forderung, eine Haltung zu bewahren, erst zum Klassiker geworden. Und dass als Vorbild seiner Klassik nur der Weimarer Dichterfürst Goethe in Frage kam, machte Hacks unmissverständlich klar: „Die Kunstrichtung der Klassik bestand aus einem einzigen Autor, Goethe.“

Und so steht es dann auch im erwähnten Monodrama über das abwesende Genie: „Weimar, das ist Goethe.“ Dass er erst in der Weimarer Gesellschaft zum Dichter reifen konnte, legt Hacks zumindest nahe und der Erzieherin des zunächst flegelhaften und zu domestizierenden Genies, Charlotte von Stein, in den Mund. Fakt ist, dass die Beziehung vor allem für Goethes Werdegang von Vorteil war. Dass er 1786 nach elf Jahren den ihn einengenden Verhältnissen am Weimarer Hof ohne Abschied entfloh, empfand die Verlassene daher auch als persönlichen Affront. Ganze fünf Akte lang lässt sich die adlige Dame über die Macken des Dichters aus. Hacks hat Material aus Briefen beider und auch aus persönlichen Quellen zu einer hochpoetischen Suada gemixt, in die er sogar sein Verhältnis zum Intimfeind Heiner Müller und dessen Frau, der Lyrikerin Inge Müller, gedanklich mit hineinschrieb.

Denn: In dem Genie des abwesenden Herrn von Goethe sah Hacks niemand anderen als sich selbst und in der sich etwas zickig gebenden Frau von Stein die Personifikation einer feudalabsolutistischen und reaktionären Gesellschaft als Hindernis für ein sich frei entfaltendes Künstlertum bzw. im Umkehrschluss bezogen auf die DDR auch deren sich bisweilen selbst absolutistisch gebende Kulturpolitik - wenn nicht gar die Partei oder den Staat selbst, dem Hacks in herzlicher Hassliebe verbunden war. Gleichwohl eine unerfüllte Zuneigung, die Hacks dennoch bis zum bitteren Ende des Sozialismus pflegte und sich seinem Objekt der Begierde auch nicht durch vorzeitige Flucht entzog. Im Gegenteil - er weinte noch in Gedichten einem ihrer Bollwerke als „der Erdenwunder schönstes“ nach. Ein paradoxer Widerspruch, der sich durch den Wegfall der DDR nur noch verschärft haben dürfte. Das alles muss man im Hinterkopf behalten, will man Hacks Stück verstehen oder es gar aufführen. Es ist ein nach wie vor hoch politisches und selbstreferenzielles Werk. Trotzdem bleibt da immer auch reichlich „Spiel“-Raum für Interpretationen.



* * *


Hätte der Meister der sozialistischen Klassik einen Ort für die Umsetzung seiner Pläne für ein sozialistisches Hoftheater bestimmen können, dann wäre es zweifellos das Deutsche Theater Berlin mit seiner neoklassizistischen Anmut gewesen, auch wenn man im Goethe-Theater in Bad Lauchstädt in schönster Regelmäßigkeit noch immer Hacks‘ Monodrama von der Frau von Stein und dem abwesenden Genie aufführt. Hätte, wäre, wenn - ist aber nicht.

Nun, das Renaissance-Theater ist auch nicht zu verachten. Wenn schon nicht Klassik, dann wenigstens Renaissance. Jedoch niemals nicht Romantik. Nun will es der Zufall, dass Darstellerin und Regisseurin beide einst am Deutschen Theater beschäftigt waren. Annika Mauer hat schon seit geraumer Zeit ihr Arbeitsasyl am Charlottenburger Renaissance-Theater gefunden. Und sie ist mit Sicherheit nicht nur ein Ersatz für die Anfang letzten Jahres aus Krankheitsgründen von der Rolle zurückgetretene Dagmar Manzel. Was Regisseurin Johanna Schall betrifft, so führt sie hier nach einer gefühlten Ewigkeit wieder mal Regie in Berlin.

Frau Schall setzt in Kostüm und Bühnenbild voll auf ironisierendes Zeitkolorit. Annika Mauer trägt Blümchenreifrock, Strickjäckchen und Rokoko-Perücke. Das wirkt ein bisschen putzig aber auch passend spießig. Im Lehnsessel am Fenster sitzt nicht wie bei Hacks eine Puppe des Freiherrn von Stein, sondern hängen nur locker ein paar Kleidungsstücke. Links steht ein Spinett und rechts eine etwas angeknabberte Büste des jungen Dichters. Auch der Scherenschnitt von Charlotte von Stein, der Goethe einst auf die Dame aufmerksam machen sollte, hängt an der Wand. Weimarer Klassik dürfte ihr allerdings Wurscht sein, und Annika Mauer legt sofort los, den „berühmtesten Grobian“ vorzuführen. Das macht sie ganz ordentlich, zu weilen auch etwas zu ranschmeißerisch. Allerdings spielt hier ja jemand jemanden, der eine Rolle spielt, Publikum braucht und dankbar gefunden hat.

Hacks selbst spielt nur als Textlieferant eine Rolle. Goethe als Genie ist ebenfalls abwesend. Er bleibt zunächst noch Mann, auch wenn er über den Dingen zu schweben scheint. Und auch der ungeliebte Ehegatte von Stein bekommt sein Fett weg, und das in recht deutlichen Worten. Ob hier nun ein Lustspiel aufgeführt wird oder eine verdrehte Emanzipationsposse, wird nicht ganz klar. Annika Mauer rollt die Worte, flötet "Lieböö" oder schnarrt vom "Wettterrr" und stottert gekonnt die gesetzten Versprecher beim Vortragen des geflunkerten Liebesakts. Immer wieder holt sie aus einer demonstrativ lang ausziehbaren Schublade Goethes Briefe. Erst leis, dann immer lauter klingt das Posthorn und kündigt die finale Pointe an. Hier schlägt das Genie Goethe/Hacks zurück. Aus dem erhofften Heiratsantrag wird nichts. Aber Goethe fühlt sich wohl und: „Alle Wetter sind schön.“

Die Stein reißt Goethes Kiste wie ein Westpaket auf, umtänzelt den Tisch mit der italienischen Herkulesstatue, lässt diese aber - wie schon zuvor die vom Universalgenie bemalte Kaffeetasse - fallen. Das wird hier aber weder ein großes Scherbengericht noch ist es eine Gesellschaftstragödie mit Frau von Stein in der Hauptrolle einer gescheiterten Heldin von gestern, die nach Fassung ringt. Jedoch nach hinten raus ein durchaus starkes Psychogramm, dem Annika Mauer nach der Pause noch ein paar mehr Facetten abringen kann. Und das muss der Neid ihr mindestens lassen, darin bleibt sie unbestrittene Siegerin über die etwas unentschiedene Regie.
Stefan Bock - 5. Februar 2016
ID 9115
EIN GESPRÄCH IM HAUSE STEIN ÜBER DEN ABWESENDEN HERRN VON GOETHE (Renaissance-Theater, 02.02.2016)
Regie: Johanna Schall
Bühne: Horst Vogelgesang
Kostüme: Petra Kray
Dramaturgie: Gundula Reinig
Mit Anika Mauer als Charlotte von Stein
Premiere war am 31. Januar 2016
Weitere Termine: 19. - 21. 2. / 2. - 4., 30., 31. 3. 2016


Weitere Infos siehe auch: http://www.renaissance-theater.de/


blog.theater-nachtgedanken.de

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