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nachDRUCK # 6

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Repertoire

Satirische Vorführung des Brecht`schen
V-Effekts



(C) Thalia Theater Hamburg

Bewertung:    



Dass eine Neuinszenierung der 1928 uraufgeführte Dreigroschenoper von Bertolt Brecht und Kurt Weill nochmal überraschen könnte, ist nach ihrem Eingang in das Standardrepertoire sämtlicher Stadttheaterbühnen kaum noch zu erwarten. Nun hat sich Antú Romero Nunes, der 31jährige Hausregisseur am Thalia Theater in Hamburg (Berliner Theatergängern noch aus dem Gorki unter Armin Petras bekannt), nach Mozarts Don Giovanni und Wagners Ring einen weiteren "Klassiker" unter den Musiktheater-Gassenhauern vorgenommen und überrascht zunächst tatsächlich. Seine Idee ist zwar nicht unbedingt brandneu oder besonders brillant, verblüfft aber in ihrer Stringenz. Die DarstellerInnen wechseln hier öfter ihre Rollen, sind neben den tragenden Figuren auch mal Bandenmitglieder oder Huren, und treten, die einführenden epischen Texte sprechend, aus ihren Rollen heraus. Eines sind sie dabei aber immer, ein Fleisch gewordenes Abbild des in seine Kopfgeburten gefahrenen Autors. Ganze acht Brechts stehen da auf der ansonsten kahlen, nur durch rauf- und runterfahrende Neonröhren schmal beleuchteten Bühne und werfen sich die epischen Spielbälle zu.

Da ist zunächst allein Jörg Pohl als Jonathan Jeremiah Peachum, der im proletarischen Brechtoutfit mit Mütze, Brille und Zigarre in den Abend einstimmt und die Richtung vorgibt. Nochmal alle anständig abhusten, aber bitte nicht outrieren. Es geht um den richtigen Ton. Und der wird nun dem ebenfalls als Brecht kostümierten, angehenden Bettler Finch (Paul Schröder) vom Inhaber der Firma „Bettlers Freund“, den schwäbischen Dialekt Brechts persifliert, anhand von ein paar frommen Sprüchen beigebracht. Denn Sprüche sind unser einziges Kapital, heißt es bei Brecht. Menschliche Regungen erzeugen ist des Bettlers Geschäft, und das wird hier performt - bis hin zu unserer Wahrnehmung von Verkäufern der zahllosen Obdachlosenmagazine. Das ist Regieeinfall und selbstredend auch wieder pure Reflexion vorhandener Theatermittel. Eine ironische Einfühlung in Sachen V-Effekt.

Dazu kommt, dass der Zuschauer aufgefordert wird, sich so einiges selbst vorzustellen. So müssen die fehlenden Kulissen imaginiert werden, vom Vorhang über das Klopfen an der nicht vorhandenen Tür bis zur Bettlergarderobe und anderen zeithistorischen Bezügen. Dafür gibt es immer wieder in die Handlung eingebettete Zitate aus Brechts Anmerkungen zur Dreigroschenoper, ohne dass es dabei allzu altklug, didaktisch oder sogar langweilig werden würde. Der V-Effekt ist dann eben doch kein Energie-Getränk, wie es Jörg Pohl schwant, sondern lebhafte Theatertradition und durchaus gegenwärtig. Das frische, ungezwungene Spiel mit der Verfremdung verhilft hier sogar dem etwas angegrauten Stilmittel zu neuer Blüte - als gezielte Publikumsunterhaltung durchaus im Sinne Brechts. Und diese bis an ihre Grenzen der Interpretation ausgenuddelte Gangsterschmiere scheint sich bestens dafür zu eignen. Eine kleine, späte Anerkennung für Brechts theorielastige Spielweise, mit der eigentlich die bürgerliche Moral und Korrumpierbarkeit der Gesellschaft entlarvt werden sollte.

Das Ganze wird so zum unterhaltsamen Streit des Autors mit sich selbst und seinem Text. Dabei kommen natürlich auch Handlung und Humor nicht zu kurz. Das Ensemble glänzt als Gauner im Blaumann wie auch in Unterwäsche im vorgespielten bürgerlichen Alltag des Hurenhausidylls. Victoria Trauttmansdorff gibt eine wunderbar aasige und schnapsdrosselige Mrs. Peachum, Franziska Hartmann eine trotz fehlenden Accessoires durchaus laszive Spelunken-Jenny, und der Polizeichef Tiger Brown ist bei Thomas Niehaus ein melancholischer Opportunist, der seinen Schergen Smith (Paul Schröder) als eiserne Hand vorschickt. In einem minutenlangen Kung-Fu-Schaukampf stellt sich Tiger Brown seinem einstigen Kumpan Macheath, bis Smith ihn schließlich mit dem Taser zur Strecke bringt. Wobei hier Nunes starker Hang zum Slapstick nie nur platt wirkt.

Sven Schelker ist nicht der verschlagene Räuber Mackie Messer, sondern eher der sympathische, proletarische Underdog mit Ambitionen ins Bürgertum, zu dem der Arbeitskittel noch ganz gut passt. Diese bewusst ironische Zweideutigkeit setzt sich auch ganz gut in den Figuren der Polly und Lucie fort. Katharina Marie Schubert und Anna-Maria Torkel tragen ihr Eifersuchts-Duett als kleinen Arienwettstreit aus, und laufen dabei zu stimmlicher Hochform auf. Überhaupt ist die musikalische Begleitung neben den textlastigen Spielszenen das bemerkenswerte zweite Standbein der Inszenierung. Auch hier vollziehen die Schauspieler den „Funktionswechsel“ (Brecht) vom Sprechen zum Singen zusagen mit Ansage. Recht werktreu in der Instrumentierung des achtköpfigen Salon-Orchesters unter der Leitung von Carolina Bigge, das natürlich ebenfalls im Brecht‘schen Blaumann auftritt, wirken die Arrangements von Johannes Hofmann trotzdem immer zeitlos frisch. Die berühmten Lieder, von denen Nunes nur den Mackie-Messer-Song auslässt, klingen mal wie Brecht'sche Ballade, dann wieder ganz kämpferisch, und es wird dazu Tango oder Charleston getanzt.

Ihre magische Wirkung haben weder die Texte von Bertolt Brecht noch die Musik von Kurt Weill verloren. Ob das Stück noch einen dialektischen Effekt zeitigt, ist allerdings die große Frage, die dieser Abend auch nicht beantworten kann und will. Zumindest bekommt Meckie Messer seinen Schlussmonolog mit dem bekannten Satz: „Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“, in dem er sich als Opfer der Verhältnisse und eines unfairen Konkurrenzkampfes sieht. Die Inszenierung hadert dann noch ein bisschen mit dem Ende, bei dem der Deus ex machina in Gestalt des Reitenden Boten des Königs erscheint und den Verbrecher Macheath vorm Galgen rettet. Das solle man doch bitte mit Ernst und Würde spielen und nicht auf einem albernen Spielzeugpferd, ist da die Meinung auf der Bühne. Wie man es auch machen könnte, zeigt dann das Schlussbild mit echtem Schimmel und historischer Kostümierung. Das folgenlose bürgerliche Theater, was Brecht eigentlich unterlaufen wollte, hier ist es kurz zu sehen. Nur wozu? Welch folgenlose Ironie.



Die Dreigroschenoper am Thalia Theater Hamburg | Foto (C) Armin Smailovic

Stefan Bock - 12. Oktober 2015
ID 8925
DIE DREIGROSCHENOPER (Thalia Theater Hamburg, 10.10.2015)
Regie: Antú Romero Nunes
Musikalische Leitung: Johannes Hofmann
Bühne: Florian Lösche
Kostüme: Victoria Behr
Dramaturgie: Matthias Günther
Besetzung:
Franziska Hartmann (Spelunken-Jenny), Thomas Niehaus (Brown, Polizeichef), Jörg Pohl (Jonathan Jeremiah Peachum), Sven Schelker (Mackie Messer), Paul Schröder (Filch; Smith), Katharina Marie Schubert (Polly Peachum, deren Tochter), Anna-Maria Torkel (Lucy, Browns Tochter), Victoria Trauttmansdorff (Celia Peachum, seine Frau) sowie
Franziska Hartmann, Thomas Niehaus, Jörg Pohl, Victoria Trauttmansdorf, Paul Schröder und Katharina Marie Schubert (Die Platte/Huren) als auch die Musiker Carolina Bigge (Schlagwerk, Bandleitung), Anna Katharina Bauer (Klavier, Akkordeon, Gesangeinstudierung), Eva Barta (Klavier, Cello, Korrepetition), Kerstin Sund (Gitarre, Banjo, Lap Steel Gitarre), Natascha Protze (Saxophone, Klarinette, Flöten), Jonathan Krause (Saxophone, Klarinetten), Anita Wälti (Trompete) und Chris Lüers (Posaune, Kontrabass)
Premiere war am 12. September 2015
Weitere Termine: 1. - 4., 17., 25. 11. / 17., 18., 25. 12. 2015 // 16., 17. 1. 2016


Weitere Infos siehe auch: http://www.thalia-theater.de/


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de



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