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Premierenkritik

Kafkas Prozess - am Berliner Ensemble inszeniert der Hausherr Claus Peymann sein eigenes Scheitern



Kafkas Prozess am BE - Foto (C) Lucie Jansch

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Wenn sonst schon nicht viel, dieses Bild wird aus Claus Peymanns Kafka-Inszenierung bleiben: Die zunächst stolze Gestalt des Josef K. (Veit Schubert) steht am Ende auf der außer ein paar Stühlen und Tischen fast leerer Bühne (Achim Freyer) des Berliner Ensembles an der Brandmauer, die Hände erhoben. In der Szene im Dom tritt dem Gehetzten in Gestalt des Gefängniskaplans sein letztes großes Lebensrätsel entgegen. Jürgen Holzt, ganz der altersweise aber auch dämonische Geistliche, konfrontiert den verzweifelten Delinquenten mit der berühmten Geschichte Vor dem Gericht. K. nimmt die Parabel vom Türhüter, der nur den ganz persönlichen Zugang des Einzelnen zum Gericht bewacht, die Schultern gesenkt und den Kopf schief gestellt entgegen. K. als geworfenes Individuum, allein und in eine Welt gestellt, die es nicht mehr versteht und nicht mehr beeinflussen kann, hat hier nicht viel mehr zu entgegnen als „Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.“

Und Veit Schubert spielt das auch sehr schön, erst mit aufgeregter, später resignierter Fassungslosigkeit. Ein großes unschuldiges Kind mit noch größer angemalten Augen, weiß geschminktem Gesicht, wie bei Peymann seit Jahren so üblich, und einem unermesslichen Drang zum ewig Weiblichen, das sich hier K. mal anbiedernd an den Hals wirft, mal rätselhaft und unerreichbar scheint - wie die Ursache seiner Verhaftung und der Sitz des über ihn urteilenden Gerichts. Die Frauen in der Maske der Versuchung werden K. aber nicht hinan, sondern auf Dauer immer weiter hinab ziehen. Jedenfalls bringen sie ihn in seiner Angelegenheit kaum einen Schritt weiter. Laura Tratnik (Fräulein Bürstner) als mondäne Femme fatale in schwarz, Marina Senckel als flatterhafte, klammernde Leni und Karla Sengteller als verführerische Frau des Gerichtsdieners, diesmal in weiß, dürfen hier Kafkas leicht verkorkstes Frauenbild illustrieren. Veit Schubert malt sich seine Begehren und Ängste als weibliche Silhouette auf einen Spiegel. Das wäre zumindest ein autobiografischer Deutungsansatz. Dazu liefert die Bühnenfassung von Jutta Ferbers ein verschlanktes Textgerüst aus den wichtigsten Dialogen des Romans neben einigen erzählerischen Passagen aus dem Ensemble.

Das Romanfragment Der Prozess (Titel der Erstausgabe von 1925) erzählt ja nicht zuletzt auch vom Scheitern. Kafka immer im Zweifel mit sich und der Welt, auf der Suche nach dem Warum, ganz ins Schicksal ergeben. Alles vergeblich, und doch nichts weniger als ganz große Literatur. Mehrfach verfilmt von Orson Welles bis Steven Soderbergh und auf die Bühne gebracht u.a. in der phänomenalen Inszenierung von Andreas Kriegenburg 2008 an den Münchner Kammerspielen [oder in dem sensationellen Großtheaterakt von Andrej Mogutschi 2012 am Düsseldorfer Schauspielhaus! a.so]. Auf einer schiefgestellten Bühne im Auge der Überwachung balancierte damals, in München, das Individuum Josef K. aufgelöst in eine nach Kleidung und Geschlecht neutrale, uniforme Masse von clownesken Mitläufern.

Am BE gibt man dagegen eine leider recht traurige Nummernrevue, in der lediglich einige der bereits recht betagten Theatergrößen wie Jürgen Holzt und der aus Wien importierte Martin Schwab als Advokat Huld im Rollstuhl brillieren. Swetlana Schönfeld als poltrige Frau Grubach, Norbert Stöß als tänzelnder Onkel Albert, Roman Kaminski als hündisch kriechender Kaufmann Block und Joachim Nimtz als wie ein Rummelboxer ausstaffierter, einen riesen Pinsel schwingender Maler Titorelli bleiben dagegen reine Karikaturen.

Einer unerreichbaren Macht ausgeliefert sein, man könnte jede Menge Beispiele dafür anführen, nicht zuletzt bezüglich des aktuellen NSA-Skandals oder der allgemeinen Krake Internet. Claus Peymann unterlässt dies nicht ganz unerwartet. Er interpretiert Kafkas düster absurde Suche nach dem/einem Gesetz als Verzweiflungsakt der totalen Sinnlosigkeit. Das hat bei Kafka ja durchaus Beckett'sche Dimensionen. In Claus Peymanns Urteil erstarrt auf der Bühne alles zum verkalkten Bild. Es staubt nicht nur aus den übergroßen Deckeln des Heftes des Untersuchungsrichters (Jakob Schneider). Die Bühnenuhr läuft mal vor und mal rückwärts, das Ticken der vergehenden Zeit wächst in den Szenenwechseln zu einem bedrohlichen Lärmen an. Überdeutlich auch die Gestik des Schauspielensembles in den verschiedenen Rollen der Wächter, Richter und anderen dem Gericht Dienlichen oder wie K. Ausgelieferten. Da werden Aktenblätter beschwörend hochgehalten, Vorgesetzte und Gerichtsangestellte sitzen auf Leitern oder erheben sich bedrohlich über dem zusammensinkenden K. und der Sitzungssaal schrumpft durch herunterfahrende Stangen, an den Neonröhren befestigt sind, zum klaustrophoben Raum.

Zur Deutung eines Sinns oder der Sinnlosigkeit dieser absurden Geschichte ist viel gesagt und noch mehr geschrieben worden. Von der Sinnlosigkeit seines Tuns hat auch Claus Peymann seit einiger Zeit in den Medien immer wieder berichtet. Nun hat er seine Resignation in ein passendes Alterswerk gefasst. Er zeigt mit Kafkas Prozess das Scheitern eines Menschen in der Maschinerie einer seelenlosen, korrupten Bürokratie als Sinnbild nicht nur für einen autokratischen Staat, sondern auch für das Mühlrad des Lebens selbst. Das vor der Tür des Gesetzes gescheiterte Individuum, müde, erniedrigt, seiner Würde und Kleidung entledigt, verkriecht sich hier unter einem Haufen aufgestapelter Stühle. Keine letzte helfende Hand aus irgendeinem Fenster, als Geste des Mitleids. Der Akt der Vollstreckung am von einem nicht fassbaren Richter Abgeurteilten erfolgt als vom Ensemble aus der Loge eingesprochener Abgesang. „Wie ein Hund! (...) es war, als sollte die Scham ihn überleben." In Claus Peymanns dröger Literaturvertheaterung bleibt nicht nur das bloße Behauptung.




Kafkas Prozess am BE - Foto (C) Lucie Jansch


Stefan Bock - 14. Juni 2014
ID 7907
KAFKAS PROZESS (Berliner Ensemble, 14.06.2014)
Inszenierung: Claus Peymann
Bühnenbild: Achim Freyer
Kostüme: Achim Freyer und Wicke Naujoks
Mitarbeit Bühnenbild: Moritz Nitsche
Dramaturgie: Jutta Ferbers
Licht: Ulrich Eh und Achim Freyer
Mit: Swetlana Schönfeld (Frau Grubach/ Eine Frau), Marina Senckel (Leni/ Mädchen), Karla Sengteller (Frau des Gerichtsdieners/ Mädchen), Laura Tratnik (Fräulein Bürstner/ Mädchen), Raphael Dwinger (Kullich/ Gerichtsdiener), Jürgen Holtz (Der Geistliche), Boris Jacoby (Willem/ Ein Mann im Richtertalar), Roman Kaminski (Direktor-Stellvertreter/ Kaufmann Block), Andy Klinger (Aufseher/ Prügler), Joachim Nimtz (Maler Titorelli), Luca Schaub (Rabensteiner/ Student), Jakob Schneider (Kaminer/ Untersuchungsrichter), Veit Schubert (Josef K.), Martin Schwab (Advokat Huld), Norbert Stöß (Onkel Albert/ Ein Wartender) und Jörg Thieme (Franz/ Ein Mann im Richtertalar)
Premiere war am 14. Juni 2014
Weitere Termine: 15. 6. + 9. 7. 2014


Weitere Infos siehe auch: http://www.berliner-ensemble.de/


Post an Stefan Bock

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