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Premierenkritik

Nurkan Erpulat nimmt die Aufforderung von Joe Ortons bitterböser Kleinbürger-Farce mehr als wörtlich



(C) Esra Rotthoff

Bewertung:    



Als „Oscar Wilde der Sozialstaat-Vornehmheit“ wurde Joe Orton (1933-1967) einst von einem Kritiker bezeichnet. Der Erfolg der schwarz-humorigen Stücke und Farcen des englischen Dramatikers und schwulem Enfant Terrible scheint nach wie vor ungebrochen. In ihnen treibt Orton die Abrechnung mit der bigotten Gesellschaft meist bis ins Groteske auf die Spitze. Sie bieten sich dadurch geradezu für jede Menge Nonsen und Klamauk auf der Bühne an. Das hat wohl auch Regie-Enfant-Terrible Herbert Fritsch dazu bewogen, 2009 in Oberhausen Joe Ortons Stück Beute aufzuführen. Den Text übersetzte ihm dafür René Pollesch, ein Meister des politischen Diskurs-Boulevards, der sich nicht zum ersten Mal mit Ortons Hang zur grotesken Komik als Mittel der Gesellschaftskritik beschäftigte. Mittlerweile ist das relativ kurze und stürmische Leben des Joe Orton, der 1967 von seinem eifersüchtigen Liebhaber mit einem Hammer erschlagen wurde, selbst zur Kunst geworden. Stephen Frears verfilmte es 1987 unter dem Titel Prick Up your Ears mit Gary Oldman in der Hauptrolle.

* * *

Aufhorchen lassen möchte nun auch die neue Inszenierung von Nurkan Erpulat. Der Hausregisseur am Maxim Gorki Theater wählte dafür Ortons wohl bekannteste Farce Entertaining Mr. Sloane (dt.: "Seid nett zu Mister Sloane"). Der Plot ist schnell erzählt:

Der junge Streuner und Kleinkriminelle Mr. Sloane zieht bei der alleinstehenden Kathy ein, die mit ihrem sehschwachen Vater Kemp in einem Haus nahe der Müllkippe wohnt. In ihrem sexuellen Notstand nähert sich die 40jährige begehrlich ihrem gutaussehenden jugendlichen Untermieter, was in ein nahezu mütterliches Abhängigkeitsverhältnis mündet. Auch Kathys klemmschwuler Bruder Ed fühlt sich zu Sloane hingezogen und stellt ihn als Chauffeur an. Nur der alte Kemp kann Sloane nicht ausstehen und verdächtigt ihn andauernd des Mordes an seinem ehemaligen Chef. Als daraufhin Sloane den lästigen Kemp erschlägt, erkennen die Geschwister ihre Chance Sloane dauerhaft als Liebhaber an sich zu binden, indem sie ihn erpressen, ihnen im Wechsel für je ein halbes Jahr zu Diensten zu sein.

In Mr. Sloane stecken durchaus auch autobiografische Züge von Orton, ansonsten dient die Figur im Stück den Spießern Kathy und Ed als Projektion ihrer unausgelebten sexuellen Begierden. In provokanter Manier geißelt der Autor moralische Heuchelei und leere bürgerliche Konventionen. In der Verkörperung des Sloane mit dem schwarzen Schauspieler Jerry Hoffmann setzt Erpulat am Gorki Theater dem Ganzen noch eins drauf. Hier bekommt der groteske Tanz um die bigotten Lügen der Kleinbürger noch einen für das neue Gorki typischen Touch ins Postmigrantische. Und wie schon die Besetzung in der Kölner Ibsen-Inszenierung vom Volksfeind (Einladung zum Theatertreffen 2012) in der Regie von Lukas Langhoff mit dem schwarzen Schauspieler Falilou Seck für eine Verstörung weißer Sehgewohnheit sorgen sollte, treibt auch Erpulat ein ironisches Spiel mit der Identität seines Hauptdarstellers.

Während Falilou Seck als ambivalenter Charakter Dr. Stockmann mit dem Heiner-Müller-Text „Von wem ist die Rede wenn / Von mir die Rede geht Ich Wer ist das.“ als schwarzer Entertainer auf der Bühne stand, singt Jerry Hoffmann (dem boulevardesken Showcharakter des Stücks Rechnung tragend) ständig „Who am I anyway?“ aus dem Musical Chorus Line. „That is a picture of a person I don't know.“ - der junge Mann scheint hier nicht ganz zu begreifen, wie ihm geschieht. „What does he want from me? / What should I try to be? / So many faces all around, and here we go. / I need this job, oh God, I need this show.” Nurkan Erpulat versucht in seiner Inszenierung die blanke Lust der Spießbürger dem eigentlich auch zwielichtig angelegten Sloane ihre versteckten sexuellen Phantasien überzustülpen, in ein Anpassungs- und Ausbeutungsverhältnis umzumünzen. Neben der Entlarvung von Illusionen einer geilen Scheinmoral entspinnt sich hier außerdem ein groteskes Spiel um rassistische Zuschreibungen, geboren aus den Neidvorstellungen weißer Gewalt- und Herrschaftsideologien.

Das scheint harter Tobak, die vermeintliche Provokation wird aber im gleichen Moment wieder durch eine Inszenierung als bewusst ausgestellte Show zurückgenommen. Zur Karikatur einer Show- und Boulevardbühne mit einer aufklappbaren Schrankwand, die zunächst den Blick auf die Hinterbühne freigibt und aus der im Lauf der Handlung immer wieder Gartenzwerge purzeln und andere Requisiten zum Vorschein kommen oder wieder verschwinden, kommen die in Kostümen und Maske völlig überzeichneten Charaktere von Kathy (Mareike Beykirch), Ed (Aleksandar Radenkovic) und Vater Kemp (Thomas Wodianka). Zudem ziehen die Darsteller immer wieder Mikrofone aus den fußelnden Flokati und schmettern Musical- und Pop Hits wie „There's No Business Like Show Business“, „Teach me Tiger“ oder „Nature Boy“. Zugegebener Maßen mit großem Verve und Können.

Dabei tut sich besonders Thomas Wodianka mit einer denkwürdigen Showeinlage hervor. Der Mord an ihm vollzieht sich hier fast wie eine Selbststrangulation mit dem Mikrofonkabel, wobei der Sterbende mehrfach zurückkehrt und Freddy Mercurys "The Show Must Go On" intoniert. Allerdings zieht Erpulat die Showbremse auch immer wieder an und verweigert praktisch vor allem dem Ziel der Begierden ein echtes Eigenleben. Der mit Sixpack unterm Shirt ausgestattete Mr. Sloane sieht dem Treiben doch eher recht apathisch zu. Ihm passiert hier alles nur irgendwie. Die Ambivalenz der Figur ist gestrichen und schiebt sie so in eine recht eindimensionale Opferhaltung, die spätestens beim Mord am alten Kemp etwas unglaubwürdig wirkt. Zusätzlich schiebt Erpulat Fremdtexte zur Genderfrage, der Eugenik und dem „schwarzen Subjekt als Projektionsfläche für die unterdrückten Aspekte des weißen Selbst“ von der portugiesischen Schriftstellerin und Genderexpertin Grada Kilomba ein, wie zur eigentlich überflüssigen Erklärung dessen, was man eigentlich so schon deutlich genug sieht.

Who am I? Anyway. Es ist einerlei. Dem schwarzen Mr. Sloane bleibt hier keine Wahl, der Druck zur Integration ins böse Spiel der Weißen zwingt ihn in die Rolle. Der erwartete weiße Rechtfertigungsfuror wird aber voraussichtlich (außer ein paar vereinzelten Buhs bei der Premiere) ebenso ausbleiben wie ein echtes Nachdenken über genderspezifische und ethnische Vorurteile und Klischees. Die Inszenierung tüncht mit ihrem ganzen Trara und Tamtam ordentlich drüber und kommt dabei immer wieder wie ein ironisches Zitat gängiger Denkmuster und Inszenierungsklischees daher. Wobei sie dabei auch ein wenig denkfaul wirkt, wenn die Figuren neben Ortons Text auf bereits zum Thema Gedachtes und Gesagtes zurückgreifen. Das macht das Ganze zwar nicht weniger wahr, lässt aber auch eine wenig die Lust an einer eigenen Kritik vermissen. Fazit der Revue: Mit dem passenden Soundtrack scheitert es sich gleich bedeutend schöner.
Stefan Bock - 16. November 2014
ID 8251
ENTERTAINING MR. SLOANE (Maxim Gorki Theater, 13.11.2014)
Regie: Nurkan Erpulat
Bühne: Magda Willi
Kostüme: Bernd Schneider
Musik: Tilman Ritter
Dramaturgie: Holger Kuhla
Mit: Mareike Beykirch (als Kathy), Jerry Hoffmann (als Sloane), Aleksandar Radenković (als Ed) und Thomas Wodianka (als Kemp) sowie dem Musiker Tilman Ritter
Premiere war am 13. November 2014
Weitere Termine: 26. 11., 9. + 26. 12. 2014


Weitere Infos siehe auch: http://www.gorki.de


Post an Stefan Bock

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