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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Leipziger

Reflexionen



Bewertung:    



Mit seiner ersten Veröffentlichung kleinstadtnovelle (über ein schwules Coming out in der bundesrepublikanischen Provinz) wird der junge Ronald M. Schernikau (1960-1991) praktisch über Nacht bekannt. „...bin weiblich, bin männlich, doppelt. ich will nicht doppelt sein. wer bin ich? will ich sein, männlich, weiblich.“ heißt es da. Das Zweideutige, die Widersprüche bestimmen sein Leben. Er sucht die Klarheit. 1960 in Magdeburg geboren und als Sechsjähriger mit der Mutter zum Erzeuger in die BRD geflohen, geht der bekennende Kommunist Schernikau 1986 zum Literaturstudium nach Leipzig und lässt sich 1989 kurz vor der Wende in die DDR einbürgern. Geht entgegen den Fluchtbewegungen vieler Ostdeutscher jener Tage aus dem Land der Träume in das Land aus Plaste und Elaste.

Für Ronald M. Schernikau liegt der Kommunismus „so auf der hand. aber vielleicht haben die anderen keine hand?“ In konsequenter Kleinschreibung huldigt er in seinem 1989 als Abschlussarbeit am Leipziger Literaturinstitut Johannes R. Becher vorgelegtem essayistischen Band die tage in l. - darüber, daß die ddr und die brd sich niemals verständigen können. geschweige mittels ihrer literatur dem deutschen Arbeiter-und- Bauernstaat. „man kann nicht schreiben, wo man nur verachtet.“ zitiert er Tucholsky. die tage in l. ist ein Buch, das nicht nur durch die Länge seines Titels beeindruckt. Im Cut-up-Stil der US-amerikanischen Beatliteraten montiert er in 8 Kapiteln Texte über seine Zeit in Leipzig, über den Sozialismus, die Literatur aus Ost und West und beschreibt in Aphorismen, Zitaten, Tagebuchaufzeichnungen und Interview-Schnipseln die DDR aus der Sicht der BRD und umgekehrt.

Dieses Sammelsurium an ganz verschieden Prosa-Texten bietet sich nicht gerade für eine dramatische Bearbeitung für die Bühne an. Und dennoch hat sich der junge Regisseur Florian Hein in seiner Diplominszenierung für die Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch dieses Werks angenommen. Es geht ihm um Schernikaus reflexive Betrachtung der beiden Gesellschaftssysteme im Vergleich. Und dass er dem kritikwürdigen sozialistischen Projekt dabei keine Abfuhr erteilt, sondern versucht mit Kritik etwas zu verbessern. „alles, was es auf der welt gibt, wird gemacht. die menschen leben nicht in etwas, das sie nicht selber tun.“ Daher ist die Welt für Schernikau auch veränderbar.

Zu Beginn sehen wir einen Mann zwischen den Systemen, vor und hinter der Bühnenrückwand an einer geöffneten Tür. Er erzählt die Vorgeschichte Schernikaus, von der Flucht mit der Mutter im Kofferraum, die Schernikau später selbst in dem Gesprächsband Irene Binz - Befragung verarbeitet hat, über die Schwierigkeiten im Westen bis zur Rückkehr in die DDR, die da schon am verpuffen ist. Die Tür schließt sich. Der Westen ist die Vergangenheit, der Osten ist die Zukunft. Und Florian Hein nimmt es sportlich. Der Bühnenraum im bat Studiotheater ist Turnhalle für Kreisläufer und sozialistische Werkskantine für `ne kurze „Fuffzehn“ mit Essen fassen bei der Köchin Lydia.

Regisseur Hein verteilt den Text auf verschiedene Figuren mit den Attributen ihrer Tätigkeit. Ein Versuch einer kollektiven Annährung. Jede Figur ein anderer Charakter und doch auch der junge Dichter aus dem Westen, manchmal wie mit sich selbst im Streitgespräch und dann wieder gemeinsam im Chor: „wer die bananen will, der produziert die ausbeutung an anderen orten mit.“ Oder: „das projekt kommunismus ist kein spaziergang.“ „Der Wessi“ ist der Exot unter lauter grauen Mäusen. Ein Tier vom anderen Stern. Er kommt nicht mit der Bürokratie klar und wundert sich über Steine auf dem Klodeckel gegen die Ratten. Geschichten aus der sozialistischen Produktion in Schleenhain wechseln mit Songs zu Klaviermusik wie Solo Sunny, Dirk Michaelis‘ Als ich fortging oder russischen Liedern.

Die Gruppe springt in den Texten vom ökonomischen Grundgesetz des Sozialismus zur Planwirtschaft, von der marxistischen Ökonomie zum Leistungsprinzip. Man dreht sich im Kreis mit Leninbüste, Transparenten, Gorbatschow, Coca-Cola und KDW. Letztendlich schlägt der Konsum West den Konsum Ost. Der Unterschied liegt nicht allein in der Betonung. Konformismus hier, spießige Norm da. Alles nur ein Witz? „die schönsten witze habe ich denen erzählt, die sie nicht verstehen.“ DDR und BRD bleiben sich fremd, politisch wie kulturell. Die Distanz ist zu groß.

Nein sagen die meisten der BRD-Bürger auf die Frage: „möchtest du gern in der ddr leben?“ Man will seine Privilegien nicht aufgeben. Nur Schernikau glaubt weiter an das Projekt und verteidigt sogar die Zensur in der DDR-Literatur. Er gibt aber auch zu: „die ddr nervt.“ Irgendwann leider auch dieser Abend, der in seiner Patchworkartigkeit zu keinem Ganzen finden will. Etwas ratlos und depressiv, wie Schernikau selbst, der am Desinteresse der Leute scheitert. Was bleibt, ist die Liebe und die Hoffnung. Dem Begräbnis folgt die Beschreibung der Idylle auf dem Land. Es endet sehr offen mitten im Satz. Aber eigentlich endet es gar nicht. Man geht einfach und gibt Platz zum Weiterdenken.



Die Tage in L. am bat-Studiotheater | Foto (C) Emmerich, Antonenko

Stefan Bock - 10. Dezember 2016
ID 9740
DIE TAGE IN L. (bat-Studiotheater, 07.12.2016)
Bühnenfassung und Regie: Florian Hein
Kostüm- und Bühnenbild: Anastasia Antonenko und Magdalena Emmerich
Kamera: Dennis Metaxas
Regieassistenz: Yannick Geske
Dramaturgie: Jan Willem Dreier
Mit: Maximilian Hildebrandt, Vladimir Korneev, Luise Lein, Claus Lozek, Maximilian Meyer-Bretschneider, Viktor Nilsson, Kara Schröder und Josephine Witt
Premiere war am 7. Dezember 2016.
Weitere Termine: 20., 22. 12. 2016 // 13., 14. 1. 2017


Weitere Infos siehe auch: http://www.bat-berlin.de


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de

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