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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Mit Kafka

auf die

schiefe

Ebene



Ein Käfig ging einen Vogel suchen am Deutschen Theater Berlin | Foto (C) Arno Declair

Bewertung:    



Die Interpretation der Erzählungen und Romanfragmente des Schriftstellers Franz Kafka sind ein weites Feld, das gerade auch am Theater sehr gern beackert wird. Und dabei kann man schon mal auf die schiefe Ebene geraten. „Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will es dulden.“ ist daher eine recht passende Feststellung von Theodor W. Adorno zu Kafkas Werk.

Reegisseur Andreas Kriegenburg, der bereits in einer Bühnenadaption von Kafkas Prozess 2008 an den Münchner Kammerspielen die Welt eines normalen Kleinbürgers auf einer kippbaren Scheibe rotieren ließ, erschafft auch in seiner neuen Inszenierung verschiedener Kafka-Erzählungen am Deutschen Theater Berlin einen ineinander verschachtelten Bau aus kistenartigen Wohnräumen mit schiefen Böden und Wänden, die die Schwerkraft zum entscheidenden Mitspieler werden lassen.

Die Welt des Kleinbürgers aus den Angeln zu heben, vermögen die Erzählungen Franz Kafkas sicher nicht. Sie lassen aber dessen Gewissheiten oft gefährlich ins Wanken geraten. Kafka spielt dabei mit diffusen Ängsten und klaustrophoben, scheinbar ausweglosen Zuständen, die die Protagonisten schicksalhaft anziehen und an denen sie schließlich verzweifeln und scheitern müssen. So auch in zweien seiner Schlüsselerzählungen Der Bau und Blumfeld, eine älterer Junggeselle, die Andreas Kriegenburg in seinem schiefen Kistenbühnenbild ineinander verschränkt. Das Klaustrophobe mit dem Absurden verbinden will dieser Abend gleichermaßen wie er auch den Einbruch des Irrationalen in die alltägliche Realität seiner Protagonisten beschreibt.

*

Ein Käfig ging einen Vogel suchen ist einer der schönen, absurden und sogenannten „kafkaesken“ Aphorismen, die der Schriftsteller im Laufe der Jahre neben seinen zahlreichen Prosawerken zusammengetragen hat und der jetzt den gleichlautenden Titel für Kriegenburgs Exkurs zur komischen Seite Kafkas gibt.

Über den „lachenden Kafka“ im Gegensatz zum doch meist eher düster empfundenen ist viel diskutiert worden. Fakt ist, dass Kafka besonders mit der Erzählung Blumfeld, ein älterer Junggeselle eine tragikomische Slapstick-Figur geschaffen hat. Natürlich kann man sich Vieles aus der Besonderheit von Kafkas Biografie und seiner oft schwierigen Psyche zusammenreimen. An der absurden Komik dieser Erzählung, die natürlich auch selbstironische, autobiografische Züge trägt, wird man nicht vorbeikommen.

Kriegenburg überführt Kafkas Einzelgänger ins Universelle. Gemäß der Kurzparabel Gemeinschaft gibt es hier gleich fünf Blumfelds (Elias Arens, Moritz Grove, Bernd Moss, Jörg Pose und Natali Seelig), die sich allerdings Anton Blumenfeld nennen, aber genauso gut Müller, Meier, Schulze heißen könnten. Ausstatterin Andrea Schraad hat alle mit Halbmaske, Brille, Anzug und Aktentasche gleichgeschaltet. Otto-Normalbürger, die lieber unter sich bleiben wollen, aber plötzlich aus dem alltäglichen Trott ins Chaos gestürzt werden. Kriegenburg übersetzt das in entsprechend chaotische Wimmelbilder mit schrägen Hängepartien im Bühnenbild, zu denen Nele Rosetz die Texte spricht. Erster Höhepunkt des Abends ist aber mit Sicherheit die Schilderung der Bemühungen von Blumfeld, die daheim vorgefundenen, auf- und abspringenden Zelluloidbälle unter Kontrolle zu bringen. Laura Goldfarb und Lisa Quarg tragen das als doppeltes Lottchen im Stil einer Sportreportage vor.

Es fällt einem zunächst etwas schwer, sich auf den Text zu konzentrieren. Verunsicherung ist Programm an diesem Abend. Denn auch in der ebenso surrealen Erzählung Der Bau, in der ein nicht näher definiertes Tier die Vorzüge seines gut getarnten, unterirdischen Heims mit Gängen und Kammern anpreist, geht es um schwindende Sicherheiten und eine wachsende Paranoia. Den Text sprechen alle abwechselnd in einem ähnlich forcierten, ironischen Tonfall wie zuvor den Blumfeld. Der zu neuer Leichtigkeit gefundene Regisseur Kriegenburg erweist sich einmal mehr als Meister des inszenierten Slapsticks, der vom höchst konzentriert spielenden Ensemble mit erstaunlicher Präzision beim Frühstücken, Krawattenbinden und Turnen am Zimmermobiliar zelebriert wird.

Und noch weitere kurze Kafka-Texte finden Eingang in die Inszenierung und geben dem Abend letztendlich sogar eine ganz konkrete Richtung in die heutige Zeit. Aus dem Radio sind nicht nur Meldungen über schlechtes Wetter, sondern auch von Flüchtlingen zu hören. Übersetzt ins Kafka-Vokabular erzeugt die Veränderung der Welt die verschiedensten Ängste und Vorurteile sowie ein ständiges Gefühl der Ohnmacht und des Kontrollverlusts. Und das gilt natürlich im Umkehrschluss nicht nur für Kafkas Figuren. In der Tierparabel Schakale und Araber wird das ziemlich deutlich. Eine relativ widersprüchliche Geschichte, in der Kafka seine innere Zerrissenheit gegenüber dem Judentum höchst symbolhaft thematisiert. Man müsste sie allerdings hier noch etwas negativer deuten.

Noch problematischer wirkt da die Einflechtung der Erzählung Ein altes Blatt, in der die Machtlosigkeit eines Kaisers gegenüber fremden Nomaden, die eine Stadt belagern, beschrieben wird. Als verängstigtes Volk lässt Kriegenburg seine fünf Blumenfelds sich verzweifelt ans Interieur klammen, während sie von den beiden Friedas, die zu regelrechten Furien mutieren, bedrängt werden.
Die Unruhe der Figuren, das immer wieder Abrutschen an der schiefen Ebene entbehrt natürlich nicht einer gewissen Komik und Ironie. Das Gefühl der inneren Sicherheit geht ja auch dem Bau-Verteidiger irgendwann flöten. Nur resultiert dies ja bekanntlich aus einer eingebildeten Gefahr.

Wenn allerdings die Messer gewetzt und Abwehrwaffen gebastelt werden, kippt die Inszenierung vollends ins Paranoide und gibt die Stimmung in Teilen des Volkes - man summt auch mal die Melodie des Deutschlandlieds - durchaus recht drastisch wieder. Bei all dem momentanen Abschottungswahn will diese Inszenierung vielleicht ein Möglichkeitsraum sein, die Paranoia wegzulachen. Ein humorvoller Hoffnungsschimmer durch die Lücken der kafkaesken chinesischen Mauer, mit deren Bau die Länder Europas gerade den inneren Zusammenhalt erzwingen wollen.
Stefan Bock - 15. Februar 2016
ID 9138
EIN KÄFIG GING EINEN VOGEL SUCHEN (Deutsches Theater Berlin, 13.02.2016)
Regie und Bühne: Andreas Kriegenburg
Kostüme: Andrea Schraad
Dramaturgie: Juliane Koepp
Mit: Elias Arens, Laura Goldfarb, Moritz Grove, Bernd Moss, Jörg Pose, Nele Rosetz, Natali Seelig und Lisa Quarg
Premiere war am 13. Februar 2016
Weitere Termine: 14., 18. 2. / 13., 16. 3. 2016


Weitere Infos siehe auch: https://www.deutschestheater.de/


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de



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