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Performance

Vom eigenen

Weißsein



Das weiße Stottern von Frl. Wunder AG | Foto (C) Gernot Wöltjen

Bewertung:    



Das Theater lebt bekanntlich von Rollenspielen, die in der traditionellen Form der Repräsentation zumeist als klassisches So-tun-als-Ob oder auch verabredete Lüge daherkommen. Trotzdem soll alles möglichst authentisch sein. Ein Widerspruch in sich. Die Frage der Repräsentation ist nicht erst seit gestern in der Kritik. Auch hebeln moderne Arten des Performance- oder Dokumentartheaters die klassischen Darstellungsformen zunehmend aus. Das immer noch vorwiegend weiß dominierte deutsche Ensembletheater hat bekanntlich ein weiteres Repräsentationsproblem, nämlich die Besetzung von Rollen, die im Stücktext Menschen mit anderer Hautfarbe beschreiben. Die sogenannten People of color werden dabei oft noch mittels entsprechender Schminke farblich angepasst, was von den meisten Poc als rassistisch empfunden wird. Auf die Unsitte des Blackfacing machte hierzulande der Verein Bühnenwatch aufmerksam. Die dadurch ausgelöste Diskussion über Rassismus, Kunstfreiheit und die Privilegiertheit der weißen Mehrheitsgesellschaft ist bekannt.

Was aber, wenn sich im realen Leben eine weiße Person als schwarz empfindet? Der Fall der weißen US-amerikanischen Bürgerrechts-Aktivistin Rachel Dolezal ging 2015 durch die Medien. Dolezal hatte sich jahrelang als Schwarze ausgegeben und auch ihre MitstreiterInnen von der National Association for the Advancement of Colored People über ihre Identität im Unklaren gelassen. Die Sache flog auf, als ihre Eltern in einem Interview die wahre Herkunft Dolezals öffentlich machten.

Die Kritik an ihrem Verhalten fiel besonders vonseiten der schwarzen Community recht harsch aus. Und trotzdem beharrte Dolezal weiter: „Ich identifiziere mich als schwarz. Nichts am Weißsein beschreibt, was ich bin.“ Sie begründet das mit ihrer selbst leidvoll erfahrenen Kindheit in einem autoritären, patriarchalen Elternhaus. Ist das nur falsch verstandene Solidarität mit dem Kampf der schwarzen Bürgerrechtsbewegung gegen Rassismus oder selbst schon rassistische Anmaßung?

*

Ein klarer Fall für eine kritische Reflexion der sogenannten Critical Whiteness und damit auch ein Fall für das Theaterkollektiv Frl. Wunder AG - bestehend aus Verena Lobert, Melanie Hinz und Marleen Wolter, die sich als weiße PerformerInnen in ihrer Produktion Das weiße Stottern mit dem eigenen Weißsein auseinandersetzen. Mit der kritischen Weißseinsforschung, die es in den USA bereits seit den 1990er Jahren gibt, betreten sie dabei im doppelten Wortsinn ein weißes Land. Mit dem Begriff des Weißseins als unmarkierte Normalität und dem Erbe des Kolonialismus haben sich im deutschen Performancebereich 2013 auch schon andcompany&Co mit ihrer Produktion BLACK BISMARCK beschäftigt. Zum näheren Verständnis und zur Begriffserklärung kann man hier nur wieder den 1992 erschienen Essayband Playing in the Dark. Whiteness and Literary Imagination der schwarzen US-amerikanischen Literaturnobelpreisträgerin Tony Morrison empfehlen, den es immerhin bereits seit 1994 in deutscher Übersetzung (Im Dunkeln Spielen) gibt.

Als ein Stottern beschreibt die selbst weiße US-amerikanische Philosophin Millay Hyatt den Versuch der Analyse des eigenen Weißseins. Denn es ist dies nicht nur ein Problem der eigenen Wahrnehmung, sondern vor allem eines der Sprache. Mit einem anfänglichen Wer-bin-ich-Spiel versuchen sich die drei Performerinnen der Frl. Wunder AG dann auch dem Gegenstand ihrer Untersuchung zu nähern. Die Fronten zum Fall Dolezal werden als diskursiver Meinungsaustausch Pro und Contra eins gegen zwei durchgespielt. Das Setting der Performance ist eine Art kleinbürgerlicher Vorgarten mit Papphäuschen, in das die drei sich immer wieder zum Reflektieren ihrer Ansichten, dem sogenannten Hausaufgabenmachen, zurückziehen.

Aber wie ist denn nun der Fall Dolezal aus weißer Sicht zu bewerten? Hierzu nähern sich die drei Performerinnen vor allem über die Biografie der Aktivistin an das Thema an. Das Ganze läuft dann allerdings auch relativ didaktisch ab, in einer Art Beobachtungsaufbau oder ethnografischen Schau, in der sich die weiß sozialisierten und kulturwissenschaftlich gebildeten Frauen dem Blick des ebenfalls überwiegend weißen Publikums aussetzen. Dennoch sind die drei stets bemüht, ihre Wortbeiträge in möglichst lockeren Spielszenen darzubieten. Dazu werden Blumentöpfe für eine Familienaufstellung benutzt, oder die Frauen stellen sich zur Befragung in eine auf der Bühne stehende Glasvitrine.

Wirklich interessant wird es, wenn die Performerinnen ihre eigene, zumeist links sozialisierte Herkunft reflektieren. Als typische Beispiele von unkritischer weißer Aneignung von Merkmalen anderer Kulturen werden ein sogenanntes Pali-Tuch, eine Dreadlock-Perücke und ein traditionelles Kleid, das einer der Performerinnen bei einem Projekt in Afrika geschenkt wurde, an die Hauswand gepinnt. „Fake it 'til you make it.“ steht auf der Glasvitrine. Spiele die Rolle so lange, bis sie dir passt. Das soziologische Phänomen des Passing (das Durchgehen als) ist in den USA nicht unbekannt, im weiß-normierten Deutschland allerdings schwer vermittelbar. Race, Gender, Class sind als Begriffe der Unterdrückung bekannt, seit Judith Butler auch als soziale Konstruktionen, was sich in Deutschland als Grundlage eines kritischen Diskurses allerdings noch nicht wirklich durchgesetzt hat.

Das Scheitern des Abends ist im Grunde vorprogrammiert und von den Performerinnen auch gewollt, um zu zeigen, dass die Frage um die Konstruktion ethnischer Identitäten aus weißer Sicht nicht endgültig beantwortet werden kann. Als Interaktion mit dem Publikum gibt es ein Frage-Antwort-Spiel per Mobiltelephon. Die ZuschauerInnen werden während der Performance auf ihren Handys angerufen und sollen einen vorgegebenen Katalog von Fragen zum Thema Weißsein, Privilegien und eigener Wahrnehmung im Alltag beantworten. Das führt immer wieder zu Brüchen im Ablauf. Ein wirklicher Einfluss auf die Performance ist kaum spürbar. Damit wird eigentlich die Möglichkeit einer direkten Interaktion durch netztaugliche Smartphones vergeben. So bleibt am Ende der Eindruck des allgemeinen Stotterns von abgespielten Stimmen aus den Handys der Performerinnen.



Das weiße Stottern von Frl. Wunder AG | Foto (C) Gernot Wöltjen

Stefan Bock - 4. September 2017 (2)
ID 10231
DAS WEISSE STOTTERN (Theaterdiscounter, 02.09.2017)
Konzept: Frl. Wunder AG
Kostüm/Bühne: Büro unbekannt Berlin
Video: Gernot Wöltjen
Telefonie: Georg Werner
Musik: Stephanie Krah
Technik/Assistenz: Anahí Pérez
Produktionsleitung: Maike Tödter
Mit: Verena Lobert, Melanie Hinz und Marleen Wolter
Premiere war am 30. August 2017
Eine Produktion der Fräulien Wunder AG in Koproduktion mit Theaterdiscounter / Vierte Welt


Weitere Infos siehe auch: http://theaterdiscounter.de


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de

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