Filme, Kino & TV
Kunst, Fotografie & Neue Medien
Literatur
Musik
Theater
 
Redaktion, Impressum, Kontakt
Spenden, Spendenaufruf
Mediadaten, Werbung
 
Kulturtermine
 

Bitte spenden Sie!

Unsere Anthologie:
nachDRUCK # 6

KULTURA-EXTRA durchsuchen...

1. Bürgerbühnenfestival

Etwas hat sich in Gang gesetzt



„…und nichts kann es mehr aufhalten“, um einen Slogan des Deutschen Theaters Berlin, das mit seinem Jungen Theater hier ebenfalls vertreten sein wird, zu zitieren. Das erste deutsch-europäische Bürgerbühnenfestival in Dresden hat begonnen! Und zumindest in den nächsten sieben Tagen wird es den Rhythmus dieser Stadt maßgeblich mitbestimmen.


* * *


Sonnabendnachmittag, kurz vor 17 Uhr, es wuselt und quirlt derart vor und im Foyer des Kleinen Hauses, dass man eine erste Ahnung davon bekommt, welch logistischer Aufwand hinter diesem Festival steckt. Da werden Stadtpläne und Straßenbahntickets verteilt, die Gäste mit den Herbergseltern bekannt gemacht, das Gepäck erstmal irgendwie untergebracht, die Ehrengäste empfangen und zu den Plätzen geleitet, und immer wieder gibt es ein freudiges Hallo, wenn sich Bekannte begegnen. Die Theatercommunity feiert ein Familientreffen, soviel ist schnell klar. Aber man ist nicht nur unter sich, den Profis, diesmal ergänzen die Laien den Kreis und stehen gleich im Mittelpunkt des Geschehens.

Es dauert, ehe das Völkchen sich im Saal eingefunden hat, doch viertel sechs (für die Gäste: Viertel nach Fünf) geht es dann endlich los: Ein Chor aus siebzig Akteurinnen und Akteuren der Dresdner Bürgerbühne, in seiner Besetzung repräsentativ für die volle Breite der Spielenden, eröffnet mit einem Lied über dieselbe das Festival, gewohnt begeisterungsfähig und selbstironisch. „Party und Partizipation“ heißt das Motto, und man wagt auch den Blick in die Zukunft, wenn die Bürgerbühne erst zehn Jahre alt sein wird, steht bestimmt auch die erste Welttournee an.

Doch bis dahin ist es noch ein Stückchen, und Intendant Wilfried Schulz erinnert in seinem Grußwort an die Wurzeln, die antiken und die etwas aktuelleren, zu denen auch Christoph Schlingensief zählt. Er spricht von der Identitätsstiftung durch die Bürgerbühne und davon, dass man in Analogie zum Berliner Theatertreffen dreizehn „bemerkenswerte Inszenierungen“ eingeladen habe, deren Ansätze nun nebeneinandergestellt und betrachtet werden können.

Dresdens Oberbürgermeisterin Helma Orosz erwähnt Volker Lösch und seine Dresdner Weber als Paten und hebt auch – wer kann es ihr verdenken – die Rimini Protokoll-Aufführung 100% Dresden hervor, eine Art städtische Statistik in lebenden Bildern. Zu hoffen bleibt, dass sie dem freundlichen Wunsch des Bürgerchors, auch einmal die Bürgerbühne mit einem Besuch zu beehren, beherzigt.

Miriam Tscholl schließlich, die Leiterin der Bürgerbühne Dresden und gleichzeitig Leiterin des Festivals, führt ihre Ehe als Beispiel an: Auch da müsse man reden, um sich zu verstehen, und im (Bürger-)Theater könne man das lernen, und auch, wie man Differenzen aushält. Denn Ablehnung beruhe meist auf Unkenntnis, und eine der vornehmsten Aufgaben der Bürgerbühne sei es, unterschiedlichste Menschen zusammenzuführen. Noch einiges unvermeidliche Organisatorische, dann ist die Eröffnung vollbracht, und das erste Stück kommt zur Aufführung.




Die Klasse vom jungen theater basel - Foto (C) Judith Schlosser



Die Klasse betritt die Bühne, eine komplette Schulklasse der Schule für Brückenangebote Basel spielt in einer Inszenierung des jungen theaters basel unter Regie von Sebastian Nübling eine Klasse, nach einer literarischen Vorlage von Francois Bégaudeau, aber mit offenbar fließenden Grenzen zwischen Fiktion und Realität. Zu hüten ist dieser Raubtierkäfig aus fünfzehnjährigen Mädchen durch die Lehrerin, von der Schauspielerin Cathrin Störmer verkörpert, die meine große Hochachtung bekommt für ihr präzises und authentisches Spiel. Aber auch die Mädels (später ergänzt durch einen Jungen) haben einiges drauf, sowohl als kraftvoller Chor als auch in den Einzelauftritten, in welchen sie sich ihre Zukunft ausmalen. Dass das hier nicht nur eine lustige Klassenfahrt ist, wird spätestens bei der Behandlung vom Futur Zwei deutlich, und da ist es schon ein Unterschied, ob man „ich werde geschlagen“ passiv oder aktiv konjugieren kann.

Zum Umgang mit Außenseitern kann man einiges lernen, und über die multi-ethnische Zusammensetzung von Baseler Klassenzimmern. Auch das komplizierte Verhältnis Lehrerin – Schülerinnen wird beleuchtet, und als sich der Kreidestaub verzogen hat, kann man konstatieren, dass dies ein gelungener Festivalauftakt war. Verdienter Jubel im vollbesetzten Kleinen Haus.


Bewertung:    


*

Szenenwechsel, in jedweder Beziehung: Das Burgtheater Wien macht auf seiner Rückreise vom Berliner Theatertreffen Station in Dresden und führt im Rahmen des Bürgerbühnenfestivals Die letzten Zeugen (eingerichtet von Doron Rabinovici und Matthias Hartmann) im Großen Haus auf.

Man mag sich anfangs fragen, ob dieses Stück, das mit der Einladung nach Berlin schon die höchsten Weihen erhielt, noch in den Rahmen dieses Festivals passt. Aber die Frage ist müßig, denn die formalen Voraussetzungen sind erfüllt, es stehen – unterstützt von Schauspielern des Burgtheaters – Laien auf der Bühne. Doch was für welche: Rabinovici und Hartmann ist es gelungen, einige der letzten Zeitzeugen der unvorstellbaren Gräuel des Nationalsozialismus gegenüber Juden oder Sinti und Roma für eine Inszenierung zu gewinnen, die dokumentarisch-theatralisch versucht, diese Ereignisse aufzuarbeiten.

Wie dies geschieht, entzieht sich meiner Beschreibung, mir fehlen schlicht die Mittel, das auf der Bühne Erzählte adäquat wiederzugeben. Über zwei Stunden herrscht Totenstille im Haus, nur unterbrochen vom Beifall für die persönlichen Statements der sechs Protagonisten, und am Ende erhebt sich der gesamte Saal und applaudiert minutenlang.

Dennoch, einige Sätze bleiben länger haften: „Erst kam die Auflösung, dann die Auslöschung der Familien.“ „Zum Tod geht es nach links, zum Leben nach rechts.“ „Wer traut sich heute, wo niemandem mehr Gefahr für Leib und Leben droht, Verfolgten zu helfen?“

Es ist nicht möglich, darüber wie über ein normales Theaterstück zu schreiben. Das ist auch kein normales Theater, aber dennoch gehört es auf die Bühne. Diese sechs Zeitzeugen (zu Beginn der Produktion waren es noch acht, doch zwei sind inzwischen verstorben) strahlen eine unglaubliche Würde aus, und sie sind trotz aller erlebten Schrecken nicht verbittert, sondern glauben an die Vernunft und Unschuld der folgenden Generationen, auch in Deutschland.

Der Aufführung folgen nach einer Pause noch moderierte Podien mit jeweils zwei der Zeugen, man hat Gelegenheit nachzufragen. Doch welche Frage wird diesem Thema auch nur annähernd gerecht? Es bleibt meist bei Respektsbekundungen.

Meine dominierenden Gefühle am Ende: Dankbarkeit und Hoffnung.
Dankbarkeit dafür, dass sich diese hochbetagten Menschen immer wieder bereitfinden, von ihren Erlebnissen zu berichten, auch die Mühsal von Reisen auf sich nehmen, um möglichst viele zu erreichen.
Und Hoffnung, dass ihnen das noch lange vergönnt sein möge, dass sie genug Kraft aufbringen, ihre beschwerliche Mission zu erfüllen.


Bewertung:    




Nach der Vorstellung Die letzten Zeugen vom Burgtheater Wien - Foto (C) Reinhard Werner/Burgtheater



Sandro Zimmermann - 18. Mai 2014
ID 7836
Weitere Infos siehe auch: http://www.staatsschauspiel-dresden.de/


Post an Sandro Zimmermann

teichelmauke.me

BÜRGERBÜHNENFESTIVAL



  Anzeigen:



THEATER Inhalt:

Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN

Rothschilds Kolumnen

BALLETT |
PERFORMANCE |
TANZTHEATER

CASTORFOPERN

DEBATTEN
& PERSONEN

FREIE SZENE

INTERVIEWS

PREMIEREN-
KRITIKEN

ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski

THEATERTREFFEN

URAUFFÜHRUNGEN


Bewertungsmaßstäbe:


= nicht zu toppen


= schon gut


= geht so


= na ja


= katastrophal


Home     Datenschutz     Impressum     FILM     KUNST     LITERATUR     MUSIK     THEATER     Archiv     Termine

Rechtshinweis
Für alle von dieser Homepage auf andere Internetseiten gesetzten Links gilt, dass wir keinerlei Einfluss auf deren Gestaltung und Inhalte haben!!

© 1999-2024 KULTURA-EXTRA (Alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Künstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar!)