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Feuilleton

Bremer Theater am Goetheplatz

Neuinszenierung der Turandot



Ausweitung der Klangzone – Neuinszenierung der Turandot im „frischen“ Bremer Theater am Goetheplatz Die Eröffnung einer neuen Spielzeit ist immer etwas Besonderes, noch dazu – nach zweijähriger Abstinenz – im renovierten Musentempel. Geeigneten Stoff bietet die letzte Oper Puccinis – die Mischung aus Mythos und Moderne: Turandot. Die ästhetische Idee, das Orchester auf der Bühne zu platzieren, bietet sich insbesondere dort an, wo neue Klangformen dies erforderlich machen oder wo Rituale, auch die der Oper selbst, fraglich werden. Beides soll in der Turandot-Inszenierung von Peer Boysen und dem Dirigat von Lawrence Renes in Angriff genommen werden.

Noch bevor das Orchester mit den berüchtigten „Peitschenhieben“ einsetzt, überrascht die Inszenierung durch eine vorgeschaltete Traumszene, in der bereits die Konstellationen der Bremer Werkinterpretation klar aufscheinen: Turandot wird als brutale, in sich gefangene und verhärmt-inhumane Prinzessin vorgestellt. Augenscheinlich betroffen ist Calaf, der sich in sie verliebt und später trotz der Warnungen seiner ihm real zugeneigten Menschen wie Liu und trotz der Appelle seines Vaters Timur, sich nicht von dem riskanten Wagnis, die Prinzessin herauszufordern, abbringen lässt. Das gelingt auch dem Geist nicht, der symbolisch als wiederauferstandener Gekreuzigter (Prinz von Persien) durch sanftes Handauflegen Calaf einen kurzzeitig authentischen Eindruck des wahrscheinlichen Todes vermittelt. Denn bisher konnte niemand der zahlreichen Männer die schweren Rätsel der Turandot lösen.

Liu ist die eigentliche Verliererin des ersten Aktes – sie findet ihre Lebensliebe Calaf und verliert sie sogleich. „Arme Liu!“ Fortan ist Liu in Boysens Inszenierung in einem dämmrig-verlassenen Innenweltzustand gefangen, aus dem nur sporadische Zusammenhänge mit dem Außen erwachsen.

Zwischendurch huschen die drei Beamten-Gestalten des chinesischen Hofes über das Parkett und verwandeln den Raum kurzzeitig in eine Commedia dell’Arte-Vorstellung. In einem kreativen Unisono von Haarpracht und Kleidung – letztere auch durch Boysen – bringen Ping, Pang und Pong die Szene heiter zurück auf eine mythische Bewusstseinsebene, indem sie durch spontanes Auftauchen aus der Tiefe des Orchestergrabens bisherige Handlungsabläufe brechen.

Boysen verdient ohnehin reiches Lob für die Vielfalt an evokativem Bildmaterial. Dazu gehört die Erscheinung des sterbenden Prinzen, das Umwerben Calafs von sechs „abgeschminkten Schönheiten“ oder auch, tief bewegend, Kaiser Amoun auf einem hereinrollenden Treppengerippe, von dem aus er auf die Bühne hinabsteigt und dabei seine felligen Körperhüllen verliert – zudem kurze Interaktionen: Rührender Blickkontakt zwischen den gealterten Patriarchen Timur und Amoun, bei dem Amoun Timur die Sonnenbrille kurzzeitig abnimmt, oder die sensible Interaktion zwischen dem windelbedürftigen Kaiser und Calaf als Vorspiel zur Rätselszene des 2. Akts.

Und es wird nicht weniger: Erst spielen die drei Minister spielen mit Miniaturen ihrer Lebensträume, dann stellt sich Turandot vor. Sie stellt Calaf die Rätsel und dieser beantwortet sie mit Blick Richtung Publikum als säße er bei einer mündlichen Prüfung. Die barfüssige schwarze Diva wird zusehends unkontrollierter, während Calaf im Habitus eines Handlungsreisenden mehr und mehr Oberwasser gewinnt, was dann seinen Abschluss in einer Belohnungszigarette nach getaner Denkarbeit findet: „Hoffnung“, „Blut“, „Turandot“ – Antworten, die als paradigmatische Handlungsmaximen dieser Oper insgesamt gelten könnten.

Turandot ist irritiert durch die neue Situation und froh über die sich bietende Chance, welche Calaf ihr offenherzig einräumt. Liu scheint benommen durch die Tat Calafs und bedarf der Ersten Hilfe durch Ping. Großartige Töne des als blaue Masse mit Schreimund getarnten Chores im Orchestergraben beenden den 2. Akt.

Der unbekannte Prinz ist der Held des Abends und doch so herrlich unheldisch: Wie er „Nessun dorma!“ singt, mit Hand in der Hosentasche, am Rand stehend, unprätentiös, liebenswürdig, mit tenoraler Noblesse und großer Ausdruckskraft nimmt Emmanuel di Villarosa die anspruchsvolle Partie in atemberaubender Manier, fast nebenbei. Das klassische zwanziger Jahre Erscheinungsbild Calafs kann an Fotos osteuropäischer Juden erinnern. Boysen öffnet mit dieser Interpretation einen Raum für herrschaftsfreie männliche Selbstpräsentation.

Ganz anders Turandot. Sie foltert Timur höchstpersönlich und lässt alle Bühnenmitglieder fesseln, um sich den unbekannten Prinz bekannter zu machen. An ihrer Stelle demonstriert Liu vollendete Liebesfähigkeit durch Selbstaufhebung zugunsten einer anderen Liebe. „Auch Du wirst ihn lieben“, heißt ihre Prophezeiung, bevor sie sich die Kehle durchtrennt. Das Messer bekommt sie von Turandot.

Der Schlussanstrich dieser fesselnden Partie ist diffizil. Puccini hat es bekanntlich nicht vermocht, die Oper noch zu Ende zu komponieren. Franco Alfano schrieb an seiner Stelle ein aufgeladenes Schlussduett, in dem vor allem starke Chorpräsenz vorherrscht. Seit zwei Jahren gibt es neben dem Alfano-Schluss und der zwei Alternativen Arturo Toscaninis einen Entwurf von Luciano Berio, der jetzt auch in dieser Bremer Turandot präferiert wurde. Die Berio-Version bietet Reminiszensen aus den ersten beiden Akten und Anlehnungen an Wagner, Mahler und Schönberg auf. Das Liebesduett ist hier keine einfache Notwendigkeit, sondern es vollzieht sich nach einer bereits von Puccini intendierten „Wandlung“ Turandots, das musikalisch in einem sehr schönen Zwischenspiel gelöst wird, wie überhaupt bei der Interpretation des Berio-Teils die Bremer MusikerInnen mitsamt Dirigent zu Akteuren auf der Bühne werden und mit den Protagonisten zu dem musikalisch-szenischen Gesamtorganismus verschmelzen.

Verstärkt wird dieser Gesamteindruck durch einen Beleuchtungswechsel: Im Zuschauerraum und hinter der Musik wird es hell ebenso wie auf der Bühne über den Hauptprotagonisten. Damit wird deutlich, dass die Liebe der emphatisch singenden Menschen auf der Bühne die Fortsetzung im Zuschauerraum finden muss, um verwirklicht zu werden: Die Turandot sind wir – sollen wir lieben können, muss sie in uns schlafen gehen.

Gesanglich hervorzuheben sind die Chöre, also der erweiterte Chor des Theaters und der Knabenchor, gerade auch im zweiten Akt und in den abgedämpften Partien der Berio-Schlussfassung überzeugt er auf ganzer Linie. Die Liu sang Nadine Lehnert mit voller stimmlicher Reinheit eines lyrischen Soprans. Karl Huml als Timur stand wacker und ohne Allüren da, erfüllte die Basspartie des gestrigen Herrschers ordentlich. Grandios aufeinander abgestimmt sind Ping (Armin Kolarczyk), Pang (Benjamin Bruns) und Pong (Mihai Zamfir), sie tragen die Rollen und nehmen die großen Partien gesanglich beweglich, agil und frech.

Hervorhebenswert ist zudem der Kaiser Amoun Yosuke Kodama, der, fast hauchend, seine feine gesangliche Linie und darüber hinaus eine enorme Bühnenpräsenz entfaltet, welche wohl auch seinem inspirativen Äußeren (Maske: Rabi Akil) geschuldet ist. Turandot und Calaf, vice versa Carter Scott und Emanuel di Vallerosa gestalten den Abend stimmlich in wunderbarer Weise. Scott schafft die enormen Anforderungen nahezu spielerisch, wobei die vorgegebene Tonhöhe nicht immer zu erreichen ist, aber die Klangfarbe ist streng-scharf-hart (besonders in der Rätselszene), rund und von phänomenaler Kraft und enormer voluminöser Stärke. Dazu gibt sie der Partie schauspielerische Authentizität durch kurze mimische Ansagen und klar abweisende Gebärden. Di Villarosa mimt einen breiten, nicht-eindimensionalen Manntypus und gibt stimmlich einen berauschenden Tenorgesang der Extraklasse, brillant gefärbt und breit angelegt.

Die Art und Weise, wie Renes es schafft, durch gezielte Irritationen wie Verlangsamungen, Beschleunigungen und Lautstärkevariationen – im Sinne der Inszenierung Boysens – die inhärenten Strukturen der Turandotpartitur neu zum Klingen zu bringen, ist makellos. Er markiert feingliedrig-führend stets das geniologische Zentrum des Abends und verschafft dem Publikum eine Ausweitung der Klangzone: Indem der orchestrale Körper nicht lediglich in den Bühnenraum versenkt, sondern filigran und mittels konzentrierter Eruptionen gezielt gesetzt wird – Renes gelingt es so (zusammen mit dem stark aufspielenden Bremer Orchester), die verstellten Sinne tiefer zu durchdringen und die Töne unter die Haut zu legen.


Wolfgang Hoops, 20. September 2004
ID 00000001231
Weitere Vorstellung: 26. September, 15.30 Uhr

Weitere Infos siehe auch: http://www.bremertheater.com/






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