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Premierenkritik

5. März 2014 - Vaganten Bühne, Berlin

GELBER MOND

Die Ballade von Leila und Lee von David Greig


Gelber Mond - Die Ballade von Leila und Lee an der Vaganten Bühne Berlin | Bildquelle http://www.vaganten.de


Falsche Götter und wahre Märchen

Für Menschen wie ihn muss die Soziologie den Begriff „Platzhirsch“ eingeführt haben: Lee Macalinden, besser bekannt als Stag Lee (Johann Fohl) - Teenager, Proll und notorischer Problemfall. In seinem Revier kennt ihn jeder, den Typen mit einem Überschuss an Energie, auch krimineller. Den Zuschauern der Vaganten Bühne aber muss nicht nur Lee vorgestellt werden, sondern auch seine Mütze mit Hirschemblem. Ohne die geht gar nichts.

Bevor sich der Blick auf den kleinen Bühnenraum öffnet, lernen wir vor der Kulisse einer dürftig zusammengeklebten Bauplane auch Leila (Stella Denis) kennen, die von Lee im Supermarkt schräg von der Seite angesprochen wird. Leila Suleiman, Typ „weiche Schale, harter Kern“, ist Tochter muslimischer Flüchtlinge, ein ruhiges Mädchen, das allwöchentlich in die schillernde Welt ihrer geliebten Hochglanz-Magazine abtaucht.

„Kommst du oder kommst du?“, fragt Lee mit einem so dämlichen wie unwiderstehlichen Grinsen, dem Leila nichts entgegenzusetzen hat. Das ungleiche Gespann eint das Bedürfnis nach Schutz vor der bösen Welt da drinnen: Lee will seinem kaputten Zuhause entfliehen, seit der Vater die Familie verlassen hat und durch Billy Logan ersetzt wurde, den neuen, grobschlächtigen Freund der alkoholkranken Mutter. Leila hingegen will Selbsthass und innerer Leere entkommen; „dumm und hässlich“ fühlt sich das schweigsame Mädchen. Daran ändern auch die blutig geritzten Arme nichts, die ihr für ein paar kurzlebige Momente am Samstagabend das Gefühl geben, „da zu sein“.

Die Geschichte ihres eher unfreiwilligen Ausbruchs ist schnell erzählt: Lee ersticht seinen Stiefvater im Affekt, und die beiden Teenager beschließen, gemeinsam zu türmen. Denn da draußen kann nichts so schlimm sein wie in ihrer maroden Alltagswelt; da draußen wartet die freie Luft der Highlands, und vor allem ist da Lees Hoffnung, seinen Vater ausfindig zu machen.

In seiner Bonnie-und-Clyde-Geschichte, 2006 in Glasgow uraufgeführt, schickt der schottische Dramatiker David Greig zwei fragile Rebellen auf eine Flucht ins nordbritische Herz der Dunkelheit und lässt sie unterwegs – zu Lande und zu Wasser - Mord, Totschlag und Feuersbrunst erleben. Man glaubt dem Autor unbesehen, wenn er behauptet, er mache es gerne spannend für den Regisseur. Ausstatterin Olga Lunow stellt sich der Herausforderung und kreiert mit simplen Mitteln eine (alp)traumhafte Kulisse mit Autoreifenstapeln, verschwommenen Leinwandprojektionen und gleich drei Trennwänden, die sukzessive fallen und so den Bühnenraum fast beiläufig erweitern. Papierleinwände dienen als Unterlage, türmen sich dann knisternd zu Feuerwällen auf. Allein für die symbolische Darstellung von Blut schöpft man aus einem Füllhorn an Ideen: Rote Glanzfolie, Gemüsesaft und Filzstifte kommen zum Einsatz. Indes macht die wohldosierte Fantasie der dramaturgischen Leitung auch vor der Ausstaffierung der Figuren nicht halt.

Stella Denis würde in ihren Wildlederstiefeln und Jeans-Shorts eine unglaubwürdige „anständige“ Muslimin verkörpern – wäre da nicht die nötige Portion Willensstärke und sarkastischer Trotz, mit dem sie ihre nur scheinbar verletzliche Figur darstellt. Wortgewaltig macht sie die Gedankenwelt der „stillen Leila“ transparent; noch mehr aber spricht sie mit Blicken – mal irre, mal Aufbegehren und Begierde demonstrierend. Besondere Authentizität darf man vielleicht nicht erwarten, wenn zwei Menschen Anfang dreißig in die Rolle von Pubertierenden schlüpfen. Mit ihrer überzogenen Spielweise offenbaren Denis und Fohl jedoch erstaunliches Feingefühl im Umgang mit der Gefühlswelt ihrer Charaktere. Und wenn beide abwechselnd in die Rolle des omnipräsenten Erzählers schlüpfen, dann finden sich in Stimme und Gestik der sozialrealistische Biss von Trainspotting und die lyrische Zartheit schottischer Dichter.

Die Erwachsenenwelt wird dabei weitestgehend ausgeklammert, denn der Fokus liegt auch für Regisseur Lars Georg Vogel ganz klar auf den Jugendlichen. Deswegen mutet er seinen Darstellern Rollentausch in fliegendem Wechsel und Dialoge in immer neuen Konstellationen zu. Sein Vertrauen in die Flexibilität der Schauspieler hat sich jedoch bezahlt gemacht. Nicht erst beim Auftritt von Wildhüter Frank, als unfreiwilliger Diabolus ex Machina die dritte wichtige Figur im Stück, wird deutlich, wie unwahrscheinlich groß Fohls Wandelbarkeit ist – und mit welcher Wucht David Greig auch interpersonell Tradition und Moderne, Urbanität und Urtümlichkeit aufeinanderprallen lässt. Auch Denis‘ Leila hat einen ihrer denkwürdigsten Auftritte nicht etwa in der Großstadt, sondern in einer Wildnis-Szene beim Erlegen einer Hirschkuh. Träumte sich Leila Momente zuvor noch in die oberflächliche Märchenwelt der Starlets aus ihren Magazinen, lebt sie nun ihre eigene dunkle Fantasie aus, die so düster ist wie Grimms morbideste Märchen.

Mit einer Ballade im Sinne eines klassischen Tanzlieds hat Gelber Mond natürlich nicht viel am Hut. Leila hüpft zu den Bee Gees über die Bühne, während sie sich ritzt; Lees angestaute Emotionen entlädt er tanzend zu Punkrock oder Elektro-Stücken – und beides mag man unpassend oder im ersten Fall sogar geschmacklos finden. Um Musik geht es aber nicht. Lars Georg Vogels poetisch-trashige Version von Yellow Moon – The Ballad of Leila and Lee zeigt, dass Greig verstanden wurde. Der hat das Pathos der historischen Versdichtung über Schottlands Nationalhelden in seinem Stück wunderbar auf den Kopf gestellt, und seine „Ballade“ gleichzeitig zur Hommage an Schottlands raue Schönheit werden lassen. Die Wahrheit über Lees Vater entpuppt sich schlussendlich eben nicht als Heldensaga à la Sir Walter Scott; auch Leila muss der ungeschminkten Realität ihrer vergötterten Prominenz ins Auge blicken. Was am Ende bleibt, sind verwüstete Landschaften und exponierte Seelen. Aber wie jedes gute Märchen hat Gelber Mond zumindest ein Happy-End-Potenzial.




Gelber Mond - Die Ballade von Leila und Lee an der Vaganten Bühne Berlin | Bildquelle http://www.vaganten.de



Bewertung:    

Jaleh Ojan - 7. März 2014
ID 7654
GELBER MOND (Vaganten Bühne, 05.03.2014)
Mit: Stella Denis und Johann Fohl
Regie: Lars Georg Vogel
Ausstattung: Olga Lunow
Premiere war am 5. März 2014
Weitere Termine: 8. 3. / 2. - 5. 4. 2014


Weitere Infos siehe auch: http://www.vaganten.de


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