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Repertoire

Vom Drahtseilakt der Kunst

zum Klagelied einer Wirtshaussemmel

Münchner Revuen zu Silvester und Neujahr



Ukraine-Krieg, Energiekrise, Klimakleber und Zeitenwende sind nur einige markige Schlagworte des gerade zu Ende gegangenen Jahres 2022, das damit als nicht gerade besonders erfreulich in die Geschichte der Bundesrepublik eingehen dürfte. Auch das Theater hat mit so mancher Krise wie Zuschauerschwund und Relevanzverlust zu kämpfen. Die Lust an der leichten Revue-Unterhaltung scheint den TheatermacherInnen daher ein probates Mittel, das Publikum bei Laune zu halten. Wer immer hofft, stirbt singend titeln die Münchner Kammerspielen, und das Residenztheater veranstaltet sogar eine Valentiniade zu Ehren des anarchisch-bayrischen Komikers Karl Valentin. Und während sich Jan-Christoph Gockel an der „Reparatur einer Revue nach Geschichten und Motiven von Alexander Kluge“ versucht, verspricht Claudia Bauer ein „sportliches Singspiel mit allen Mitteln“. Die Mittel des bürgerlichen Stadttheaters messen sich da mit den in der Hochkultur eher verpönten Genres Zirkus und Kleinkunst, nicht ohne aus ihnen nach Herzenslust zu wildern.



Wer immer hofft, stirbt singend an den Münchner Kammerspielen | Foto (C) Maurice Korbel


Ebenso wie Regisseurin Claudia Bauer, die bereits Anfang des Jahres mit ihrer preisgekrönten Ernst-Jandl-Revue humanistää! am Wiener Volkstheater brillierte, ist auch Christoph Gockel ein Meister im Zeigen der Mittel. Was er zu Beginn des Abends an den Münchner Kammerspielen im Probenfrack aus Luc Percevals Othello und ein paar anderen Theaterrequisiten aus Münchner Aufführungen wie etwa einem Gummi-Fisch aus einer Operninszenierung von Frank Castorf an der Bayrischen Staatsoper dem erwartungsfrohen Publikum auch vorführt. Selbst der rote Vorhang ist aus dem Faust von Dieter Dorn. Einige im Publikum werden sich an diese geschichtsträchtigen Theaterabende sicher noch erinnern. Andere werden vermutlich nicht mal den Autor, Theater- und Filmemacher Alexander Kluge kennen. Gockels Inszenierung dient der mittlerweile 90jährige mit seinem gesellschaftskritischen Film Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos aus dem Jahr 1968 als Stichwortgeber für eine heitere Bestandsaufnahme des heutigen Theaters gesehen aus der Geschichte der Zirkuskunst.

Natürlich sind auch hier die für Gockels Inszenierung so typischen Puppen mit dabei. So etwa ein Clown als Drahtseilartist Manfred Peickert, der nach einem Unfall auf dem Seil zu Grabe getragen wird. Katharina Bach als seine Tochter Leni versucht sich nun den ganzen Abend am Erbe und einer Reformierung des Zirkus. Hannelore Hoger und Alexander Kluge räsonieren kurz in einem Videointerview über den alten Film, der an diesem Abend aber nur in ein paar wenigen Texteinlagen noch eine Rolle spielt. Die Spielfreude des Ensembles wird hier aber auch von vier großartigen DarstellerInnen mit Handicap getragen, was den Abend auch noch zu einem besonderen Fest der Inklusion macht. Gockel gibt den quirligen Conférencier und hält Schilder mit den Aufforderungen „Applaus“, „Jubel“, „Ahh“ und „Ohh“ fürs Publikum in die Höhe, das auch willig mitmacht und sogar die Zauberkisten auf der Bühne inspizieren darf. Als geschickter Menschen-Dompteur spielt er mit der Sensationslust und Erwartungshaltung des Publikums, das im Theater sonst eher den heiligen Ernst vermutet und sich hier immer wieder mit Jux und Tollerei konfrontiert sieht.

Etwas überdreht wirken die Showeinlagen und Zirkusnummern wie Messerwerfen oder Krokodildressur. Johanna Kappauf gibt auf dem Seil Walter Benjamins Engel der Geschichte. Das hätte sicher auch Christoph Schlingensief gefallen. Für Kenner gibt es auch viele Anspielungen an das Theater von Frank Castorf mit Livekameraübertragung aus der Kantine oder Pollesch-ähnliche Diskursübungen. Über dem Abend hängt aber auch drohend eine Pappmaché-Bombe als Zeichen realer Gefahr, die nicht zu ignorieren ist, am Ende aber knapp vor dem Aufprall auf der Bühne stoppt. Das rettet weder das Theater noch die Utopie, die nach Kluge immer besser wird, während wir auf sie warten, ist aber mit viel Liebe zur Kunst der Illusion und schrägen Unterhaltung gemacht.

Bewertung:    

* *

Schlingensief war auch Fan von Karl Valentin, den reale und eingebildete Ängste Zeit seines Lebens umtrieben und zum schier unerschöpflichen Fundus seiner von melancholischem Humor und absurdem Wort-Witz gekennzeichneten Bühnensketche wurden. Mit seiner Partnerin und Stichwortgeberin Liesl Karstadt an seiner Seite avancierte der Münchner Schlacks schließlich zum berühmten schrägen Unikum, das Theaterautoren wie Brecht oder Beckett beeinflusste.

Claudia Bauer hat sich von Texten Valentins inspirieren lassen und ein Ensemble von acht DarstellerInnen performt sich dazu in Valentin-Kostümen mit aufgesetzten Nasen durch einen Abend aus Spiel-, Gesangs- und Tanzeinlagen. Das geht zunächst noch recht bedächtig los, wenn Lukas Rüppel als Valentin in Großprojektion auf einem Rundvorhang (Bühne: Andreas Auerbach) über das Sterben räsoniert und es vorzieht am Ende eines Monats zu sterben, um nicht umsonst Miete gezahlt zu haben, da diese immer am Ersten des Monats fällig ist. Dazu gesellt sich schließlich der Tod selbst und der Kalauer vom Hingegangen- und Dagewesensein. Existentiell war es für Valentin immer. Der Witz kam aus der Verzweiflung. Die Katastrophen der Welt im Kleinbürgerformat.

„Kunst kommt von können, nicht von wollen, sonst müsste es ja Wunst heißen.“ Einer der berühmten Aussprüche von Karl Valentin wird hier zum kleinen Chorkunstwerk, begleitet von einer Band des Musikers Michael Gumpinger, der auch für die Kompositionen verantwortlich ist. Dass Kunst schön ist, aber auch viel Arbeit macht, ist eine weitere Erkenntnis Valentins, die man hier buchstäblich vorgeführt bekommt. Dass der Abend dennoch Leichtigkeit versprüht, ist in den ersten Minuten noch nicht ganz spürbar. Erst nach und nach spielt sich das Ensemble wirklich frei. Da funkeln auch die schönen Texte zur Orchesterprobe, dem Flug zum Mond oder dem schrägen Radlerpech, zu dem auch ein echtes Rad über die Bühne rollt. Vom Zufall und dem Radfahrer ist von ebenso abstruser Wortverdrehkunst wie der Ententraum aus dem Kurzakter Die Raubritter vor München.

Der aus Augsburg stammende Dramatiker Michel Decar hat ein paar eigene Texte im Stile Valentins hinzugefügt, die den Komiker ins 21. Jahrhundert holen sollen. Das macht sich fest an der ewigen Angst des Künstlers vor Krankheit und Bazillen jeglicher Art. Das Corona-erprobte Publikum ergeht sich derweil in Hustenreiz-Attacken. Letztendlich ist es aber wieder ein Valentin selbst, der dem Abend seinen Höhepunkt gibt. Das Klagelied einer Wirtshaussemmel wird in Semmel-, Weißwurst- und Senfkostümen getanzt, das kein Auge trocken bleibt. Wenn vielleicht auch nicht jeder den kleinen Seitenhieb auf die marschierende Chöre von Regiekollegen Ulrich Rasche erkennen wird. Hoffen und Singen als lebensbejahender Theatersport. Der Abend hätte etwas mehr davon gut vertragen.

Bewertung:    



Valentiniade am Residenztheater München | Foto (C) Birgit Hupfeld

Stefan Bock - 3. Januar 2023
ID 13985
WER IMMER HOFFT, STIRBT SINGEND (Münchner Kammerspiele, 31.12.2022)
Reparatur einer Revue, nach Geschichten und Motiven von Alexander Kluge

Regie: Jan-Christoph Gockel
Idee und Konzept: Jan-Christoph Gockel und Claus Philipp
Bühne: Julia Kurzweg
Kostüme: Sophie du Vinage
Musik/ Hörspiel: Matthias Grübel
Licht: Christian Schweig
Video: Lion Bischof
Puppenbau: Michael Pietsch
Live-Zeichnung: Fabian Moraw
Dramaturgie: Viola Hasselberg und Claus Philipp
Mit: Sebastian Brandes, Johanna Eiworth, Dennis Fell-Hernandez, Jan-Christoph Gockel, Frangiskos Kakoulakis, Johanna Kappauf, Fabian Moraw, Michael Pietsch und Katharina Bach sowie (im Video) Bernardo Arias Porras, Hannelore Hoger und Alexander Kluge
Premiere war am 2. April 2022.
Weitere Termine: 07., 22., 29.01./ 21.02./ 01.03.2023

VALENTNIADE (Residenztheater München, 01.01.2023)
von und nach Karl Valentin und mit Texten von Michel Decar

Inszenierung: Claudia Bauer
Bühne: Andreas Auerbach
Kostüme: Patricia Talacko
Komposition und Musikalische Leitung: Michael Gumpinger
Video: Jonas Alsleben
Live-Kamera: Niels Voges
Licht: Markus Schadel und Gerrit Jurda
Dramaturgie: Constanze Kargl
Mit: Pia Händler, Isabell Antonia Höckel, Katja Jung, Florian von Manteuffel, Nicola Mastroberardino, Max Rothbart, Lukas Rüppel und Myriam Schröder sowie den Live-Musikern Leo Gmelch, Michael Gumpinger und David Paetsch
Premiere war am 16. Dezember 2022.
Weitere Termine: 08., 21.01./ 17., 18.02.2023


https://www.muenchner-kammerspiele.de

https://www.residenztheater.de


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