Ernst Tollers
expressionistischer
Kriegsheimkehrer
Hinkemann
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Moritz Kienemann als Hinkemann am DT Berlin | Foto (C) Konrad Fersterer
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Bewertung:
Hinkemann, Ernst Tollers expressionistisches Kriegsheimkehrerdrama, geschrieben 1921/22 in Festungshaft, die der Autor aufgrund seiner Teilnahme an der Münchner Räterepublik verbüßte, stand bisher eher selten auf den Spielplänen deutschsprachiger Theater. Seit die politische Gegenwart in Deutschland ständig mit der Weimarer Republik verglichen wird, scheint die etwas sperrige Tragödie um den genitalverstümmelt aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrten Eugen Hinkemann irgendwie ein Stück der Stunde zu sein. Das Deutsche Theater hat mit Stücken über toxische Männlichkeit oder feministische Sichtweisen auf ältere Dramen auch so etwas wie ein Spielzeitmotto. Toller kritisierte mit seinem Stück vor allem die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland nach dem Krieg und die Uneinigkeit des deutschen Proletariats. Daneben ist sein Hinkemann auch ein Symbol für das vorherrschende Männerbild, in das der Kriegsversehrte ohne Geschlecht nicht hineinpassen will. Anderseits hat das Stück mit Grete Hinkemann eine moderne Frau mit eigenem Willen, auch wenn sie bei Toller am Ende nach Eugens Zurückweisung Selbstmord begeht.
Toller hat seinem Stück den Satz „Wer keine Kraft zum Traum hat, hat keine Kraft zum Leben.“ vorangestellt. Bei ihrer Rückkehr ans DT scheint Regisseurin Anne Lenk das zu beherzigen. Sie entlässt das Paar in eine gemeinsame offene Utopie des Ungeschlechtlichen. Eine Art Patchworkfamilie mit einem Kind aus dem Verhältnis mit dem Übermann Paul Großhahn (auch das ein sprechender Name), dem die unbefriedigte Grete zunächst verfällt, den Spötter ihres Mannes, der sich als „Deutscher Bär“ auf dem Rummel verdingen muss, wo er für Geld Ratten und Mäusen die Kehle durchbeißt, dann aber wieder verlässt. Was sich hier wie ein Hinweis auf die wahre platonische Liebe lesen lässt, ist im Grunde genommen eher ein starkes Plädoyer für die Menschlichkeit, die der Männergesellschaft nach dem großen Schlachten im Ersten Weltkrieg abhandengekommen ist.
Für Lenks Inszenierung hat Judith Oswald zwei ganz im Stil des Expressionismus perspektivisch schiefwinklige, nach hinten verjüngte Raumhälften geschaffen. Die eine zeigt die schmale Küche der Hinkemanns mit ebenso schiefem Ofenherd. Nach kurzen Blacks wird das Bühnenbild auch mal gewechselt und zeigt auf offener Bühne vor rotem Vorhang das Geschäft des von Jonas Hien gespielten teuflischen Budenbesitzers, der mit einer Phallus-Rakete über die Bühne fährt. Hier wird die Sensationslust des Publikums geschürt („Das Volk will Blut.“) und eine ganze Gruppe von Hinkemännern (Statisterie) zeigt Muskeln und Kaiser-Willhelm-Bart. Der eher sanfte, von Moritz Kienemann gespielte Eugen Hinkemann schwebt da kurz am Trapez vom Bühnenhimmel.
Ansonsten kann dieser Hinkemann keiner Fliege etwas zu Leide tun. Gleich zu Beginn spielt die Szene in der Küche, in der er melancholisch über den von Gretes Mutter geblendeten Singvogel sinniert und sich selbst als zugerichtete Kreatur gleich einem geduldeten Hund empfindet. Eugen durchläuft die drei Akte wie bei einem Stationendrama. Von der Küche, in der auch Freund Großhahn (Jeremy Mockridge) nach Eugens Abgang dessen Frau Grete (Lorena Handschin) Avancen macht, geht es über die Rummelbude bis in die Kneipe, wo das männliche Proletariat (Ensemble) beim Bier über den Stellenwert von Schieferdeckern zu Ziegeldeckern oder über den „revolutionären Willen“ und das richtige Parteibuch schwadroniert. Auch hier bleibt Hinkemann mit seiner fiktiven Erzählung vom kranken Mann ohne Geschlecht unverstanden, bis ihn Großhahn dem Spott Preis gibt.
In schwarz-weißen Großaufnahmen wird immer wieder das sich verzerrende Gesicht von Moritz Kienemann eingeblendet. Seine Suche nach dem Glück ohne Männlichkeit wird auch hier zur großen Enttäuschung. Nur die Liebe zu Grete und ihr Bekenntnis zum Leben mit Hinkemann führt in die Freiheit. Das gesellschaftliche und politische Moment dieser Inszenierung weist zwar ein bisschen schwammig von der Vergangenheit mit einer Gruppe von Pappkopfpfadfindern über alte Zeitungsschlagzeilen, die an die Rückwandprojiziert werden, bis in die Gegenwart mit dem heutigen Rechtsruck. Der Fokus liegt aber klar auf der zwischenmenschlichen Ebene. Dazu gehört der Wandel Gretes. Aus einem „Mein Leben gehörte niemals mir.“ wird ein klares „Mein Leben gehört mir.“ Und auch das von ihr als schmutzig betitelte Leben lohnt sich hier mit den Händen zu greifen.
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Hinkemann von Ernst Toller - am DT Berlin | Foto (C) Konrad Fersterer
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Stefan Bock – 1. Mai 2025 ID 15248
HINKEMANN (Deutsches Theater Berlin, 30.04.2025)
von Ernst Toller
Regie: Anne Lenk
Bühne: Judith Oswald
Kostüm: Daniela Selig
Musik: Johannes Hofmann
Video: Jonas Link
Licht: Cornelia Gloth
Dramaturgie: Jasmin Maghames
Mit: Moritz Kienemann, Lorena Handschin, Jeremy Mockridge, Lenz Moretti, Mathilda Switala, Jonas Hien und Almut Zilcher (als Mutter Hinkemann)
Premiere war am 25. April 2025.
Weitere Termine: 07., 16., 19., 31.05.2025
Weitere Infos siehe auch: https://www.deutschestheater.de
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